Erntedank
nickte. Böhm holte Luft, um die nächste Frage zu stellen, hielt dann aber inne und sagte: »Sag mal, was grinst du eigentlich die ganze Zeit so dämlich?«
Kluftinger schluckte. Er hatte Mühe, sein eingefrorenes Lächeln wieder aufzutauen.
»Wieso? Ich bin halt gut gelaunt. Ich hab Bayern 1 gehört«, gab er mit nur wenig abgemildertem Lächeln zurück. Was im Moment aus dem kleinen Radio tönte, hörte sich dagegen wenig nach Patrick Lindner an, sondern für Kluftingers Ohren eher nach Hardrock. Nur gut, dass die Toten das nicht mitanhören mussten.
Böhm zog die Augenbrauen nach oben. Er schien zu überlegen, ob er erwidern sollte, dass gute Laune bei der Musik und zudem der Örtlichkeit nicht gerade auf der Hand liege, entschied sich aber dagegen. Stattdessen sagte er: »Dann schau dir das mal an«, deutete auf das Gerät, das Kluftinger zunächst als Mikroskop identifiziert hatte, das sich nun aber als beleuchtete Lupe entpuppte, und stand auf.
Kluftinger trat an den Tisch. Er beugte sich über die Lupe und blickte hinein. Zunächst sah er nur einen dunstigen Schleier mit einigen undefinierbaren dunklen Punkten darin.
»Hier kannst du die Höhe der Lupe verstellen«, erklärte ihm der Pathologe. Der Kommissar legte seine Hand auf das Einstellrad und drehte daran. Langsam bekam der Nebel vor ihm Konturen. Farbige Formen schälten sich aus dem Dunst, wurden klarer und formten sich schließlich zu Buchstaben.
Kluftinger hob den Kopf und blickte zu Böhm. Der nickte nur. Der Kommissar war aufgeregt. Die Schriftzeichen waren im Halbkreis angeordnet. Der Aufkleber war auf der linken Seite abgerissen, so dass das Wort, das die Buchstaben bildeten, nur teilweise lesbar war. Außerdem klebte überall verkrustetes Blut. »dan«, las der Kommissar laut. Der Buchstabe vor dem »d« war nicht mehr zu erkennen, es könnte ein »e« oder ein »a« sein, vermutete Kluftinger. Die Buchstaben waren in dunklem Grün auf gelbem Grund gehalten.
In diesem Moment fiel Kluftinger wieder ein, dass das Ding, das er da unter der Lupe sah, gestern noch in der Halswunde der Leiche gesteckt hatte. Ihm wurde ganz flau im Magen. Ohne seinen Blick vom Objekt zu lösen, holte er sich mit seiner linken Hand den Schreibtischstuhl heran und setzte sich. Er atmete schwer, versuchte das aber dadurch zu kaschieren, dass er die Lippen spitzte und tat, als pfeife er vor sich hin. Allerdings brachte er aus seinen trockenen Lippen keinen richtigen Ton hervor, sondern nur ein Zischen. Sein Ausbilder auf der Polizeischule hatte das auch immer gemacht: einfach so vor sich hin gezischt. Kluftinger hatte das immer verächtlich als ein Zeichen fortschreitender Senilität angesehen. Im Moment wollte er aber im Zweifelsfall lieber als senil gelten.
Er räusperte sich und blickte auf. »Was glaubst du? ›dan‹ oder ›adan‹, was könnte denn das heißen?«
»Sag du’s mir«, erwiderte Böhm. »Ich hab’s dir nur gezeigt. Du bist das brain.«
Kluftinger ging nach Böhms Tonfall davon aus, dass es sich bei dem Begriff um ein Kompliment handelte. Er war nicht besonders gut in Englisch und nahm sich vor, das Wort zu Hause nachzuschlagen. Einstweilen nickte er nur.
»Kannst du es nicht sauber machen? Dass man mehr lesen kann?«
Böhm schüttelte den Kopf. »Sorry, da muss erst die Spurensicherung ran. Danach kann ich schon versuchen, die Konturen chemisch noch deutlicher hervorzuheben. Dafür müsste ich halt noch ein bisschen in die Trickkiste greifen. Das ist aber sowieso noch nicht alles. Die eigentliche Sensation, für die du herfahren musstest, kommt noch«, sagte Böhm und ging auf die mittlere Liege zu. Kluftinger blieb mehrere Meter hinter ihm.
»Du kannst dich doch noch an das Auge erinnern«, sagte der Pathologe und schlug das dunkelgrüne Leichentuch ein wenig zurück. Kluftinger nickte. Er versuchte, sich an die Liedzeile von den Flippers zu erinnern, die er gerade noch im Auto gehört hatte, um sich von dem Anblick abzulenken: ›Die rote Sonne von Barbados, für dich und mich scheint sie immer noch … ‹
»Also, ich war mir zunächst nicht sicher, wie das genau passiert ist. Sah ja ziemlich wüst aus. Aber jetzt weiß ich es. Das war der Kamerad hier.« Mit diesen Worten blickte Böhm in Richtung des kleinen Metalltischchens, das neben der Eingangstür stand. Kluftinger folgte seinem Blick. Er bemerkte eine chromglänzende Schale. In ihr lag etwas. Etwas Schwarzes. Als er erkannte, was es war, jagte eine Gänsehaut über seine
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