Erntedank
gefunden hatten. Wieder so ein kryptischer Hinweis, der ihm kein bisschen weiterhalf.
»Dreh es um, Willi … «
Was Kluftinger nun sah, half ihm etwa ebenso viel weiter wie die Zahlenkombinationen. Das Foto zeigte eine geschnitzte Holzstatue, nicht bemalt, sondern in einem honigfarbenen Braunton. Ob dieses Foto darauf hinweisen sollte, dass es sich bei den Zahlen um Bibelstellen handelte? Oder gar um Koransuren? Kluftinger wollte dem heute noch nachgehen.
Der Mönch oder Heilige auf dem Bild hatte die Hände gefaltet und trug eine Kapuze.
»Sagt dir das Bild was?«, fragte Kluftinger, ohne von der Fotografie aufzusehen.
»Nie gesehen.«
»Ich frag gleich mal rum, wer oder wo das sein könnte«, sagte der Kommissar, griff nach dem Bild und bekam dafür einen Schlag auf die Finger.
»Erst schau ma uns das mal ganz genau an. Wenn wir außer deinen Grabschern noch was drauf finden!«, dozierte Willi.
Kluftinger ärgerte sich über Willi, dessen Reaktion er überzogen fand. Wenn es um Spuren ging, wirkte er auf Kluftinger manchmal wie ein Besessener. Schon oft hatte er ihn mit hochrotem Kopf aus voller Kehle brüllend am Tatort gesehen, weil jemand die Absperrung, die er gezogen hatte, ohne seine Erlaubnis passiert hatte.
Kluftinger machte ein beleidigtes Doppelkinn und zog sich wortlos in eine Ecke des Labors zurück, von wo aus er Willi missmutig dabei zusah, wie er akribisch die Fotografie untersuchte.
Zunächst besah er sich unter einer großen, am Tisch installierten Lupe die Oberfläche und nahm dann an einer Stelle vorsichtig mit einem Klebestreifen eine Kontaktprobe. Dann bestäubte er das Bild mit silbern glänzendem Pulver, das er mit einer Art Rasierpinsel aus feinsten Haaren auftrug. Das Pulver blies er vorsichtig ab und heftete wieder einen Klebestreifen auf das Bild, den er abzog und unter sein Mikroskop legte. Er drehte sich nunmehr zu Kluftinger um und zeigte in Richtung des Stempelkissens, das für die Fingerabdrücke bereit lag. Kluftinger verstand nicht sofort und Willi setzte hinzu: »Reinhalten!«
Jetzt dämmerte es dem Kommissar. Das sollte wohl die Strafe für seinen Fauxpas von eben sein: Aber er gönnte Willi diese subtile Rache, zum einen, weil er heute nicht noch einmal mit ihm zusammenrauschen wollte, zum anderen, weil er sich auch ein bisschen selbst für seine Tollpatschigkeit bestrafen wollte. Den schwarzen Finger, mit dem er nun für den Rest des Tages würde herumlaufen müssen, sah er auch als Mahnung an sich selbst. Noch einmal würde ihm so etwas nicht passieren. Deswegen verkniff er sich die Bemerkung, dass seines Wissens nach die Abdrücke aller Kriminalbeamten im Computer gespeichert seien, um sie gegebenenfalls von echten Spuren unterscheiden zu können. Er nahm sich also die Abdrücke und brachte Willi Renn den Papierstreifen.
Etwas überrascht, dass Kluftinger seiner Anweisung tatsächlich Folge geleistet hatte, und nach ein paar kurzen Blicken zwischen Blatt und Fotografie brummte er jetzt gar nicht mehr so unfreundlich:
»Mein Gott, da brauch ich kein Mikroskop. Das sieht ein Blinder mit Krückstock, dass das Kluftingers Wurstfinger sind auf dem Bild. Ansonsten hab ich nichts Verwertbares. Leider.«
Willi reichte ihm das Bild mit den Worten: »So, jetzt kannst du von mir aus Brotzeit drauf machen.«
***
Bedächtig, mit schweren Schritten und hängendem Kopf, stieg der Kommissar einen Stock höher zu den Büros seiner Abteilung. Für einen kurzen Augenblick wurde ihm die mögliche Tragweite des heutigen Tages bewusst: Wie Blei lastete auf seinen Schultern die Erkenntnis, dass ein und derselbe Mörder bereits zwei Menschen auf dem Gewissen hatte. Er trug schwer an der Verantwortung, den oder die Täter so schnell wie möglich dingfest zu machen, und es versetzte ihm einen Stich, wenn er daran dachte, wie sehr sie noch im Dunkeln tappten. Und nun wieder dieser seltsame, undurchschaubare Hinweis. Kluftinger seufzte und atmete schwer, als er die Glastür aufstieß, die den Weg zu den kleinen Büros seiner Mitarbeiter freigab.
Dort unterhielten sich Hefele und Strobl gerade leise miteinander, Maier nestelte missmutig an seinem Diktiergerät herum. Offenbar waren die Kollegen dabei, den Bericht über das heutige Geschehen für das Schreibbüro aufzusprechen. Maier als Diktiergeräte-Fan war dann immer der »Chef-Tontechniker«. Deswegen machte es ihm auch nichts aus, dass er seine digitalen Aufnahmen immer auf ein analoges Gerät überspielen musste, weil im
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