Erntedank
Quizkönig wohl wusste, woher die Figur kam?, schoss es Kluftinger durch den Kopf. Niemals, verwarf er den Gedanken sofort wieder, noch bevor er ihn richtig zu Ende gedacht hatte. Die mögliche Lösung des Rätsels hätte den wahrscheinlich immerwährenden Triumph des Doktors kaum gerechtfertigt. Er beschloss deswegen, Langhammer als Joker und allerletzte Möglichkeit in der Hinterhand zu behalten.
Das Läuten der großen Kirchturmuhr, es war Viertel nach sechs, brachte den Kommissar auf eine andere Idee: Vielleicht könnte er ja beim Altusrieder Pfarrer wegen des Bildes einmal nachfragen. Der war schließlich, auch wenn er mangels Einfühlungsvermögen nach Kluftingers Meinung seinen Beruf verfehlt hatte, sozusagen Experte für Sakralbauten.
***
Im Pfarrheim bekam er von der Haushälterin die Information, dass der Pfarrer in der Kirche gerade den Erntedankaltar für die Messe am Sonntag vorbereite. Auf dem kurzen Weg in das gegenüberliegende Gotteshaus hörte er schon vom schweren Eingangsportal aus, was innen gerade auf dem Programm stand. Das gleichförmige Gemurmel, das gedämpft nach außen drang, gehörte unverkennbar zu den von Kluftinger am meisten gehassten Ritualen der katholischen Kirche: dem Rosenkranz. Er versuchte die Türe leise zu öffnen, was ihm jedoch gründlich misslang, und so wurde er sofort von einem Dutzend Augenpaaren entgeistert gemustert. Der Zirkel, der sich zu diesem täglichen Ritus zusammenfand, war offensichtlich keinen Besuch von Außenstehenden gewohnt. Ihren gleichförmigen Gesang jedoch unterbrachen sie nicht.
Kluftinger tauchte seine Fingerspitzen in den Weihwasserbehälter, deutete mit fahrigen Bewegungen ein Kreuzzeichen an und nickte den Augenpaaren zu. Sofort wendeten sich diese von ihm ab und blickten in Richtung Altar.
Kluftinger musste wegen der massiven Säulen, die das Kirchenschiff trugen, ein paar Schritte gehen, um ebenfalls nach vorn sehen zu können. Vom Pfarrer keine Spur. Sein Blick fiel auf einen Kürbis und einen Korb mit Ähren, die ganz vorn in der Kirche standen – die ersten Utensilien für die Erntedank-Dekoration, von der die Haushälterin gesprochen hatte.
Da er den Pfarrer noch in der Sakristei vermutete, nahm Kluftinger in einer der Kirchenbänke auf der rechten Seite Platz. Als er sich umsah, bemerkte er, dass er der Einzige in dieser Hälfte war. Die Rosenkranz-Besucher waren allesamt Frauen und hatten sich in Dreier- und Zweiergruppen auf der linken Seite verteilt. Die meisten hatten ihre Köpfe inzwischen wieder gesenkt und blickten mit leeren Augen auf die Kette, die sie in ihrem Schoß zwischen den Fingern zwirbelten. Der Kommissar schätzte das Durchschnittsalter der Anwesenden auf knappe Siebzig – er hatte es mit seinem Besuch gerade erheblich gesenkt.
Die Frauen, von denen viele dicke Strickjacken in dunklen Farbtönen trugen und mit ihren dauergewellten Haaren nicht nur die Leidenschaft für den Rosenkranz teilten, sondern scheinbar auch den gleichen Frisör hatten, hatten sich in zwei Gruppen aufgeteilt: Die drei in der ersten Reihe begannen, worauf die restlichen Anwesenden etwa zwei Oktaven tiefer antworteten.
Kluftinger beschäftigte die Frage, was einen dazu veranlassen konnte, derart schöne Gebete wie das »Vater Unser« völlig ohne Modulation herunterzuleiern. Er hatte anfangs Mühe, sich einzuhören und die Worte voneinander zu unterscheiden. Als er es schließlich geschafft hatte, musste er lächeln: Die Betenden reicherten den Gesang mit Allgäuer Dialekt an: »Gegrüsetseischdumariavolldergnade. Derherrischmitdir … «
Er hatte einmal gehört, dass dieses ständige Herunterrasseln immer derselben Texte eine geradezu meditative Wirkung auf Betende ausüben konnte. Nicht so bei ihm: Ungeduldig hatte er als Kind immer die verbleibenden Kügelchen an der Gebetskette gezählt und sich ausgerechnet, wie lange er noch würde aushalten müssen.
Auch heute stellte sich bei ihm keine Gelassenheit ein, was aber eher daran lag, dass er mit einem bestimmten Anliegen hierher gekommen war. Genau in diesem Moment kam der Pfarrer mit einem Korb voller Äpfel und Birnen herein. Gleichzeitig wurde auch der Singsang lauter und büßte etwas an Gleichförmigkeit ein. Die Blicke der alten Frauen hefteten sich an den Geistlichen, als erwarteten sie ein Lob für ihr fleißiges Beten.
Mit einem Räuspern machte auch der Kommissar auf sich aufmerksam. Doch der Geistliche reagierte nicht, er kniete nun vor dem Altar und schichtete
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