Erntedank
sich die Sachen an den abgelegensten Orten befanden, wie etwa auf der Ofenbank unter dem Sitzkissen, standen die Chancen nicht schlecht, dass Erika darüber im Bilde war. Er konnte sich das nicht erklären. Er hatte noch niemals Notiz davon genommen, wo Erika ihren Ehering ablegte. Er hätte sogar Probleme gehabt, nach mehreren Stunden mit seiner Frau ihre Kleidung zu beschreiben. Er tat ihren Vorsprung auf diesem Gebiet mangels anderer Erklärungen als typisch weibliche Begabung ab. Während er beruflich über ein geradezu fotografisches Gedächtnis verfügte, schaltete es privat bei ihm richtiggehend ab.
»Und du bist dir ganz sicher, dass es die Figur ist?«, fragte er mehr der Form halber, als dass er wirklich daran zweifelte.
»Hundertprozentig.«
Kluftinger schwankte zwischen aufrichtiger Bewunderung und unterdrückten Neidgefühlen: Durch einen Zufall hatte seine Frau ihm stundenlange Ermittlungsarbeit erspart. Zu gerne hätte er die Information sofort nachgeprüft. Wenn ihr Sohn Markus, der sich für den nächsten Tag angekündigt hatte, schon da gewesen wäre und wenn er seinen Laptop dabeigehabt hätte, dann hätte man im Internet … Aber Markus und mit ihm sein tragbarer Computer und das Wissen um die Bedienung des Internets weilten noch beim Studium in Erlangen.
Da kam ihm eine Idee. Buxheim lag gleich bei Memmingen, das wusste er. Mit den Worten »Wart g’rad mal« erhob er sich, ging zum Bücherregal und versuchte in diesem bunten Durcheinander einen Bildband zu finden, den er damals, zum zwanzigjährigen Dienstjubiläum, von Lodenbachers Vorgänger, einem gebürtigen und lokalpatriotischen Memminger, zusammen mit einem Fresskorb und einem Tag Sonderurlaub bekommen hatte. Zwar hatte er in dieses Buch noch nie hineingeschaut, er erinnerte sich aber auch nicht, es an jemanden weiterverschenkt zu haben, wie er es sonst mit ungeliebten Präsenten oft tat. Also musste es sich irgendwo im Bücherregal befinden. Wäre doch gelacht, wenn da diese Kartause nicht auch drin wäre, dachte er. Etwa fünf Minuten – in denen Erika weiterhin still grinsend hinter ihm gesessen hatte – und einige Flüche später lag das Buch vor ihnen auf dem Wohnzimmertisch. Und tatsächlich fanden sie auch eine Abbildung der Kartause und des historischen Chorgestühls. Erika hatte Recht gehabt. Klein, aber eindeutig war zwischen den vielen Holzschnitzereien auch die gesuchte Figur zu sehen.
Während Erika daraufhin zufrieden und mit beharrlichem Grinsen ins Bett ging, hing Kluftinger vor dem aufgeschlagenen Bildband noch eine Weile seinen Gedanken nach.
Er war voll des Respekts und der Zuneigung zu seiner Frau. Es war ein starkes Gefühl, das er vor sich selbst und vor anderen niemals explizit als Liebe bezeichnet hätte. Er war sich aber sicher, dass es nach all den Jahren genau das war. Nie hatte für Kluftinger in Frage gestanden, dass er und Erika zusammengehörten. Das hatte mit Vertrauen und gegenseitiger Wertschätzung zu tun. Und mit Erikas »Alltagsintelligenz«, ihrem Pragmatismus, ihrem Talent, einfache Lösungen zu finden; eine Eigenschaft, die ihm geradezu lebensnotwendig geworden war. Kluftinger grinste, als er an den Satz seiner Mutter denken musste, als Erika zum ersten Mal einen selbstgebackenen Kuchen zu Kluftingers mitgebracht hatte: »Mei, die Erika, des isch halt ein patent’s Mädle!«
Noch völlig mit seinen sentimentalen Reflexionen befasst, ging Kluftinger ins Bad und dann ins Schlafzimmer, wo Erika bereits leise schnarchte. Er küsste sie auf die Wange, bevor er sich auf seine Seite rollte und über den Gedanken an ihre Hochzeitsfeier einschlief, um diese Nacht mit seiner Frau im Takt zu schnarchen.
Des Frühlings Schatz und Waffensaal
Ihr Kronen, Zepter ohne Zahl,
Ihr Schwerter und Pfeile,
Ihr Speere und Keile,
Ihr Helme und Fahnen
Unzähliger Ahnen,
Müßt in den Erntekranz hinein,
Hüte dich schöns Blümelein!
Kluftinger hielt diesen Morgen nichts in seinem Bett. Er hatte schlecht geschlafen, aber es war nicht die Art von Schlaflosigkeit gewesen, die ihn die letzten Tage geplagt hatte. Diesmal war es vielmehr ein unruhiger Vorfreude-Schlaf. Er hatte das manchmal, wenn am nächsten Tag etwas ins Haus stand, das ihm besonders wichtig war. Jedes Kind kannte das: Die letzte Nacht vor dem anstehenden Geburtstag geriet zur Tortur. Auch Nächte vor längeren Urlaubsfahrten – für ihn waren das bereits Reisen nach Südtirol oder nach Oberitalien, die Kluftinger regelmäßig damit
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