Erntedank
immer lag das Bild unbemerkt auf dem Boden. Erikas Schritte stoppten kurz vor der Küchentür, machten kehrt und näherten sich der Fotografie. Wortlos hob sie die Abbildung auf, besah sie sich, nahm sie mit in die Küche, goss sich ein Glas stilles Mineralwasser ein, füllte ein weiteres, großes Glas mit Milch und nahm aus dem Kühlschrank ein Stück Zwetschgendatschi mit Butterstreuseln und Mandeln, den ihr Mann so liebte. Sie stellte alles auf ein rotes Sechzigerjahre-Tablett, legte das Foto dazu und ging zurück ins Wohnzimmer.
Kluftinger saß gedankenversunken am Esstisch.
»Du, das hat draußen am Boden gelegen, brauchst du das?«, versetzte Erika nebenbei, als sie Kluftinger die Milch und den Pflaumenkuchen hinschob.
Sein Blick fiel wieder auf das rätselhafte Foto.
»Ach, hör mir auf! Das lag bei der Toten. Wieder ein Hinweis für uns, mit dem ich nicht das Geringste anfangen kann. Ich hab schon alle möglichen Leute gefragt, keiner wusste, wo diese Figur stehen könnte. Wenn wir das wüssten, kämen wir vielleicht ein bisschen weiter«, sagte er und versuchte, das unangenehme Thema für heute zu beenden, indem er ein großes Stück Zwetschgendatschi aufspießte und in den Mund schob.
Erika nahm noch einmal das Bild zur Hand, hob dann den Telefonhörer ab und wählte.
»Sind das die Zwetschgen von meinen Eltern? Die sind fei richtig süß.«
Erika antwortete nicht.
»Wen rufst denn du jetzt an?«
Sie legte einen Finger an die Lippen und gab ihm so zu verstehen, dass er still sein solle.
»Mama, griaß di. Du, entschuldige, dass ich so spät anruf. Hab ich dich geweckt … ?«
Seine Mutter? Warum rief sie um diese Zeit seine Mutter an?
Auch wenn er die Antwort auf Erikas Frage nicht hörte, kannte er sie: Nein, sie habe sie doch nicht geweckt, sie wisse doch, dass sie nicht so früh ins Bett gehe. Nur der Vater sei schon schlafen gegangen. Selbst zu vorgerückter Stunde konnte man im Hause Kluftinger senior noch immer anrufen: Seine Mutter hatte einen ungefähr genau so gesegneten Fernsehschlaf wie seine Frau, eine weitere Parallele, über deren Entdeckung er wie bei allen anderen, auf die er im Laufe der Jahre gestoßen war, zunächst einmal heftig erschrocken war. Sie lag stets bis nach Mitternacht in eine Wolldecke gehüllt auf der Couch und konnte ziemlich gereizt auf die Aufforderung, doch ins Bett zu gehen, reagieren. Fragte man sie, was in den letzten anderthalb Stunden denn im Fernsehen gelaufen sei, sagte sie immer: »Ach, nix G’scheits!«
»Du, Mama, das hört sich jetzt vielleicht komisch an, aber neulich hab ich bei euch doch in so einem Prospekt von einem Kloster geblättert. Wo ihr bei eurem letzten Kirchenchorausflug … ja, genau, wo der Papa nicht mitwollte … wo war das? Genau!«
Erika vermied es, ihren Mann anzusehen. Der hatte zu essen aufgehört und saß erstaunt am Tisch.
»Na. Ich ruf dich morgen an und erklär’ dir alles. Schlaf jetzt gut! Ja, sag ich, pfiati.«
Der Gesichtsausdruck, den Erika ihrem Mann nun bot, zeigte eine Mischung aus Triumph, Freude und Stolz. Ein breites Grinsen zog sich über ihr Gesicht, das Kluftinger in diesem Moment genauso hübsch erschien wie bei ihrem ersten Zusammentreffen.
Erika setzte sich wortlos lächelnd an den Tisch.
»Buxheim. Die Kartause in Buxheim, mein Liebster!«
»Du meinst … «
»Nein, ich meine nicht, ich weiß. Und zwar, dass sich diese Figur hier in der Kartause in Buxheim befindet.« Sie lief nun zu echter Miss-Marple-Form auf. »Du bist ein guter Polizist, mein Schatz, aber wer weiß, was aus mir geworden wäre, wenn ich deinen Beruf ergriffen hätte. Ich beobachte nämlich meine Umwelt. Und merke mir Sachen und präge sie mir ein. Drum wusste ich auch noch, wo ich diese Figur schon einmal gesehen habe. Nämlich in einem Prospekt auf dem Sideboard im Wohnzimmer deiner Eltern. So einfach ist das.«
Kluftinger war baff. Da hatte er sich den ganzen Tag den Kopf zerbrochen, wie er die Gestalt auf dem Bild identifizieren sollte, und jetzt war ihm seine Frau – mit tatkräftiger Hilfe seiner Mutter
– einen kriminalistischen Atemzug voraus. Zweifellos war an der Sache mit der Beobachtungsgabe etwas dran. Wenn er etwas suchte – vorwiegend seinen Geldbeutel, seine Armbanduhr, seinen Autoschlüssel oder sein Handy –, wies ihm seine Frau in achtzig Prozent der Fälle mit knappen Positionsangaben wie »Liegt auf dem Fensterbrett in der Küche« oder »Lag heute früh im Bad« den Weg. Selbst wenn
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