Erntedank
Köpfen der anderen schwang.
»Häberle«, korrigierte sie eine kleine Frau neben ihr, die allein schon mit ihrem dezenten dunkelgrünen Mantel zeigte, dass sie nicht zu der Gruppe gehörte.
»Möchten Sie auch noch bei der Führung mitmachen?«, fragte sie in Richtung der Kluftingers. Vierzig Augenpaare ruckten herum und blieben auf dem Ehepaar haften. Kluftinger hätte am liebsten nein gesagt, aber schließlich war er dienstlich hier und hatte keine Zeit zu vergeuden.
»Gern, vielen Dank«, antwortete er deshalb und es schien ihm fast, als sei die Führerin froh darüber.
Mit angemessenem Abstand zur Reisegruppe folgten die Kluftingers und lauschten zunächst interessiert, später gebannt, den Erklärungen von Frau Häberle. Sie erfuhren, dass die Kartäuser um 1400 nach Buxheim gekommen waren, inzwischen aber nicht mehr hier anzutreffen waren. Stattdessen betrieben einige Salesianer Don Boscos ein Gymnasium in der Klosteranlage. Frau Häberle bejahte die Frage einer Frau in rosafarbener Synthetikjacke, ob es stimme, dass dies »die am besten erhaltenste Kartäuseranlage Deutschlands« sei. Er freute sich darüber, dass die Frau mit ihrem falsch gebrauchten Superlativ seine Meinung über norddeutsche Reisegruppen ungefragt bestätigte.
Als Frau Häberle das asketische Leben der Kartäusermönche beschrieb, die den größten Teil ihres Daseins in einem kleinen und schlicht ausgestatteten Zellenhaus zubrachten, in dem sie beteten, meditierten, studierten, aßen und schliefen und vor allem schwiegen, dachte Kluftinger, dass die Mitglieder der Reisegruppe vor ihnen vor allem mit Letzterem so ihre Schwierigkeiten gehabt hätten.
Nachdem sie einen langen, verglasten Kreuzgang, der Blicke auf einen lauschigen Innenhof erlaubte, entlanggelaufen waren, versammelten sie sich alle vor einer kleinen Tür, vor der sich Frau Häberle postiert hatte und mit fast feierlicher Stimme sagte: »Wir betreten jetzt den vorderen Teil der Kirche mit dem Chorgestühl.«
Kluftinger fand es erst ein bisschen albern, um ein ordinäres Chorgestühl ein solches Tamtam zu machen, doch er revidierte seine Meinung, als sie eintraten. Zunächst verstummten die Geräusche der Besuchergruppe, um nach ein paar Sekunden in ein ehrfürchtiges Zischeln überzugehen. Zahlreiche »Ahs« und »Ohs« erfüllten den kleinen Raum. Und auch dem Kommissar und seiner Frau stand für einen Augenblick der Mund offen: Rechts und links neben dem Eingang, die gesamte Wand entlang, übers Eck bis zur Tür, zog sich die aufwändigste, gewaltigste und doch filigranste Holzarbeit, die Kluftinger je gesehen hatte. Es waren Dutzende Sitzplätze, die beide Seiten der Wand zierten, und alle waren verziert mit unzähligen Putten, Tieren, Heiligen, Blumen, Früchten und allerlei verschnörkelten Ranken. Das ganze Ensemble, obwohl von einer erhabenen Monumentalität, schien förmlich zu atmen; die bis ins Kleinste verzierten Reliefs verliehen dem riesigen Kunstwerk eine eigentümliche Leichtigkeit.
Nur ganz am Eingang waren ein paar größere Figuren eingearbeitet – eine davon der Betende von dem Foto, das Kluftinger in der Handtasche der Ermordeten gefunden hatte. Eine Gänsehaut wanderte seinen Nacken hinauf, als er die Figur sah, verstärkt durch die Ehrfurcht, die der ganze Raum ihm einflößte.
Die Fremdenführerin gab den Menschen ein paar Minuten, um den Anblick aufzunehmen. Erst dann fing sie an, darauf hinzuweisen, dass es sich um eines der schönsten Chorgestühle Europas handle, was die »Ahs« und »Ohs« noch verstärkte. Kluftinger bekam von ihren Ausführungen nicht alles mit, er starrte wie hypnotisiert auf die Holzfigur gleich rechts von ihm. »Eine wechselvolle Geschichte«, hörte er etwa, »1687 bis 1691 vom Tiroler Bildhauer Ignaz Waibel und dem Memminger Schreinermeister Peter gefertigt«, »1883 verkauft«, »in England aufgetaucht« und »bis Ende der 70er Jahre des 20. Jahrhunderts in einem Frauenkonvent aufgestellt«. Aufhorchen ließ den Kommissar die Bemerkung, dass es »dort mit pechschwarzem Bootslack übermalt worden war«. Ein Sakrileg, das ihn im ersten Moment mehr erschütterte, als viele Verbrechen, die er beruflich auf den Tisch bekam – was seine Gedanken wieder zum aktuellen Fall und der Figur zurückkehren ließ. Als er sich vom Anblick des Betenden lösen konnte, hörte er gerade noch den Schluss von Frau Häberles Ausführungen: » … allein die schwarze Teerfarbe abzulösen war eine Sisyphusarbeit, die sechs Jahre in
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