Erntedank
er sich nicht sicher, ob es tatsächlich eine Inschrift trug. Jedenfalls sollen dort einst zwei Brüder gelebt haben, die sich eines Nachts auf einem schmalen Weg begegneten, wo sie einander nicht erkannten. Da keiner den Weg für den anderen frei machen wollte, kam es zum Kampf und schließlich erschlug einer von ihnen seinen Bruder. Als er das erkannte, ließ er vor Entsetzen alles stehen und liegen und flüchtete ins Ausland. Als man aber den Toten fand, errichtete man an der Unglückstelle ein steinernes Kreuz zur Sühne für den grässlichen Brudermord.
Das Klingeln des Telefons ließ den Kommissar zusammenfahren.
Willi Renn war in der Leitung, er klang gelassen wie immer, auch wenn er eine interessante Neuigkeit zu vermelden hatte. »Es war ein guter Hinweis von dir, die Spuren auf Gemeinsamkeiten zu untersuchen. Ich hab tatsächlich was gefunden. Eine rote Synthetikfaser. Nicht sehr weit verbreitet hier in der Gegend. Sehr robustes Material, auch nicht ganz billig.«
»Du meinst, wir könnten rauskriegen, wo das überall verkauft wird?«
»Nein, so selten ist sie auch wieder nicht. Ich wollte eigentlich nur die These eines Serientäters untermauern, auch wenn das wahrscheinlich gar nicht mehr nötig ist. Aber wenn ihr einen Verdächtigen habt, wisst ihr ja, wonach ihr bei ihm suchen müsst.«
Kluftinger bedankte sich und nahm rasch wieder das Buch zur Hand. Die Geschichte hatte ihn gefesselt: Ein steinernes Wegkreuz, das auf eine uralte Freveltat hinwies – das ging genau in die Richtung, die er sich erhofft hatte. Und die antiquierte Sprache tat das Ihrige dazu, alles noch ein bisschen unheimlicher wirken zu lassen. Er hätte am liebsten sofort weitergelesen, der Blick auf die Uhr zeigte ihm jedoch, dass es höchste Zeit war, nach Hause zu fahren. Als er sein Büro verließ, steckte das Buch, das ihn so in Bann geschlagen hatte, in seine Manteltasche.
***
Kluftinger war gerade am Ortsausgang von Kempten, als das Mobiltelefon in seiner Hosentasche mit heftigem Vibrieren einen Anruf anzeigte.
»Kreuzkruzifix, was isch denn jetzt scho wieder«, schimpfte der Kommissar laut vor sich hin, weil er einen dienstlichen Anruf vermutete. Umständlich zog er das Handy aus der Tasche.
»Kluftinger!«, blaffte er ins Mikrofon.
Er mäßigte seinen Ton aber im selben Moment, in dem er merkte, dass es seine Frau war, die ihn so dringend sprechen wollte.
»Ich wollt dich nur dran erinnern, dass du unseren Sohn am Hauptbahnhof abholst, gell?«
»Ja, daran hab ich schon gedacht, freilich. Wenn unser Bub schon mal wieder heimkommt, dann vergess ich ihn doch nicht. Ich bin schon kurz vor dem Bahnhof«, log der Kommissar mit empörter Stimme. Sofort drehte er um und fuhr im Eiltempo zurück nach Kempten.
Während der Fahrt verdrängte die Freude über das in seinen Augen sehr gelungene Täuschungsmanöver den Gedanken an das, was passiert wäre, hätte er Markus einfach am Bahnhof stehen lassen. Daran, dass er ihren Hochzeitstag vergaß, war Erika ja mittlerweile gewöhnt, aber einen so wichtigen Termin zu versemmeln, hätte ein übles Nachspiel für Kluftinger gehabt. Noch dazu, da es sich dabei um Markus handelte. Denn ihr Sohn war Erikas Augenstern. Gegen den Sohn, das wusste er, hatte er bei seiner Frau keinerlei Chance. Und mittlerweile hatte er sich daran auch gewöhnt.
Natürlich liebte er ihn auch, schließlich war er sein einziges Kind und noch dazu ganz ordentlich geraten. Aber so wie Erika vergötterten nur Mütter ihre Söhne. Kluftingers Verhältnis zu Markus – eigentlich Markus Alexander, denn Erika hatte zwei Namen edler gefunden – hatte sich in den letzten Jahren ohnehin deutlich verbessert. Als Markus noch das Gymnasium besuchte, hatte es – entwicklungsbedingt – öfters Reibereien zwischen Vater und Sohn gegeben, zumal Kluftinger junior nicht gerade ein Muster an Disziplin, Fleiß und Lernwillen gewesen war.
Am peinlichsten war es für Kluftinger gewesen, als die uniformierten Kollegen Markus einmal in Krugzell nachts aufgegriffen hatten, weil er mit einem unversicherten und unbeleuchteten Mofa in Richtung Altusried gefahren war. Markus war damals sechzehn Jahre alt gewesen und hatte noch nicht einmal eine Fahrerlaubnis gehabt. Wochenlang hatte sich der Vater danach die Kommentare der Verkehrspolizei anhören dürfen. Glücklicherweise ließen sich die Folgen einer sonntäglichen Baggerfahrt auf einer Baustelle in Altusried, die sich Markus ein Jahr später leistete und die in der
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