Erntedank
erfahren, die sich um die ehemalige Burg in Rappenscheuchen bei Hirschdorf rankt. Können Sie uns da weiterhelfen?«
»Ist es wegen des Mordfalls? Ich habe in der Zeitung davon gelesen.«
Kluftinger nickte und bemerkte, dass Frau Urban den Genitiv nach »wegen« setzte, was er zwar in der gesprochenen Sprache auch viel zu selten tat, ihm aber sehr gefiel. Schließlich schien kaum mehr jemand diese richtige Form zu kennen. Selbst in der Zeitung – in der Werbung sowieso – standen heutzutage ja schon Schlagzeilen wie die, über die sie unlängst im Präsidium gesprochen hatten und an die er sich jetzt wieder erinnerte: »Burschen wegen schwerem Raub zu Jugendstrafe verurteilt«.
Hiltrud Urban war unterdessen zu ihrem wohlsortierten Bücherschrank gegangen und hatte ein paar Wälzer geholt, von denen Kluftinger einige bereits kannte. Sie legte sie vor sich auf den Tisch und fing an zu erzählen.
»Nun, die Rappenscheuchen-Sage. Die kann ich Ihnen gern näher bringen, ich möchte aber etwas weiter ausholen, damit Sie die Geschichte auch besser einordnen können. Wenn ich Sie langweile, sagen Sie es bitte.«
Kluftinger winkte energisch ab, ließ seine Hände aber schlagartig wieder sinken, als sein Blick auf den immer noch starrenden Dobermann fiel.
»Sie müssen wissen, dass gerade in unserer Gegend vergleichsweise viele alte Sagen existieren, die von Generation zu Generation weitergegeben wurden. Wie dem auch sei, es hat sich ein geradezu bizarrer Volks- und Aberglaube bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts erhalten – in einigen abgelegenen Weilern wahrscheinlich bis heute. Zum Glück haben sich aber vor beinahe hundert Jahren einige Heimatforscher die Mühe gemacht, die wichtigsten der im Volk kursierenden Sagen und Geschichten aufzuschreiben, ein Schatz, der in unserer schnelllebigen und hektischen Zeit sonst wohl auf ewig verloren gegangen wäre.«
»Wie ich mittlerweile weiß, gibt es ja für ganz viele Dörfer eigene Sagen.«
Hefele sah Kluftinger von der Seite an und zollte ihm für sein Fachwissen mit einem angedeuteten Kopfnicken Respekt.
»Sie müssen aber unterscheiden zwischen echten Sagen, also etwa christlichen, Heiligen- oder Heldensagen, etwa die von Heinrich dem Kempter, und den immer nur mündlich und eher ortsgebunden überlieferten Geschichten«, fuhr Frau Urban fort. »Da gilt es dann wieder Geistersagen und Erzählungen über unheimliche Erscheinungen zu trennen von Geschichten über die Herkunft von Ortsnamen. Und Sie haben ganz Recht. Über einige Orte gibt es geradezu massenhaft Überlieferungen. Außerdem ziehen sich manche Sagen durch das ganze Allgäu und weit darüber hinaus. So berichtet man aus fast jedem Ort von einer Gespenstermette, also einem Gottesdienst, der in regelmäßigen Abständen von Geistern abgehalten oder einem Geisterchor begleitet wird. Auch unheimliche Tiererscheinungen finden sich mit beinahe identischen Fakten und nur geänderten Ortsnamen überall in der Gegend. Wissen Sie beispielsweise, woher dieser Weiler, Kaisersmad, seinen Namen hat? Wahrscheinlich nicht.«
Kluftinger schüttelte den Kopf.
»Woher?«, fragte er ehrlich interessiert.
»Nun, es geht die Sage, dass in längst vergangener Zeit einmal ein hoher Herr, wahrscheinlich ein Kaiser, hier vor dem Kemptener Wald mit seinem Gefolge Lager gehalten hat. Aus Langeweile haben dann einige Männer des Hofstaats sich darin versucht, mit der Sense zu mähen. Die adligen Herren haben sich dabei recht blamiert, weil sie es noch nie gemacht hatten. Nur der Kaiser soll zur Sense gegriffen und geschnitten haben, als habe er es von Jugend an gelernt. Und deshalb soll dieser Flecken hier den Namen Kaisersmad bekommen haben. Sagen Sie, wo kommen Sie denn beispielsweise her, Herr Klutfinger?«
»Kluftinger … «, korrigierte der Kommissar und fügte hinzu: »Aus Altusried.«
»Ah ja, über Altusried gibt es eine Menge Geschichten. Moment … «
Die Hausherrin stand wortlos auf, ging zur Kommode, holte dort ein ledernes Brillenetui und setzte eine goldumrandete Lesebrille auf, was ihr wieder jenen Anschein der strengen Lehrerin verlieh. Dann schlug sie eines der Bücher auf, blätterte kurz darin und lächelte dann zum ersten Mal, seit sie die beiden Beamten hereingebeten hatte.
»Hier, genau. Die so genannte ›Gschnaidt-Sage‹. Kennen Sie diese Gegend?«
»Das Gschnaidt? Ja, freilich. Das ist bei Frauenzell. Da steht eine kleine Kapelle oben, mit ganz vielen Kreuzen drumherum, die dort von
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