Erntemord
des Herbstes zu feiern, auch wenn er sich fragte, ob irgendein Künstler den Enthusiasmus einfangen könnte, mit dem sie das Leben umarmte.
Er war überrascht, als ihn ein kurzes Unbehagen überkam – als ob er Angst um sie hätte.
Angst um sie? Warum?
Er war nur ganz allgemein besorgt, entschied er. Eine Frau – eine Freundin – war dort verschwunden, wo er stand, und noch immer nicht gefunden worden. Und doch war er überrascht von dem tiefen Gefühl, das in ihm aufstieg, wenn er Rowenna betrachtete.
Auf der anderen Seite hatten ihn eine Menge Dinge überrascht, seit er Rowenna begegnet war.
Zuerst war er überrascht gewesen von seiner spontanen Abwehr ihr gegenüber. Er sah keinen Grund dafür. Er hatte niemals etwas gegen Kendall gehabt, und sie hatte als Kartenleserin gearbeitet. Aber Rowenna … Nun, aus irgendeinem Grund war sie anders. Da war diese sofortige innere Warnung gewesen, dass er sich von ihr fernhalten sollte, weil sie ihn so faszinierte. Und jetzt …
Nun war er mehr als andere überrascht von dem bloß enUmstand, dass er sich hier mit ihr befand. Denn nun war mit einem Mal alles anders. Das hatte er letzte Nacht erkannt, als er von seinem Hotel direkt zu ihr gegangen war. Er hatte gewusst, wenn er dem Pfad folgte, der ihn so lockte, würde sich seine ganze Welt verändern. Er würde direkt auf eine emotionale Gefahr zusteuern, von der es kein Zurück gab.
Das hatte keine Rolle gespielt. Er war zu ihr gegangen, auch auf die Gefahr hin, dass sie ihm die Tür vor der Nase zuknallen würde.
Doch das hatte sie nicht getan.
Er betrachtete sie. Ihre Haut war zart wie Porzellan, dazu diese perfekten Gesichtszüge, deren Höhepunkt die goldenen schimmernden Augen bildeten. Ihr langer, schlanker Körper reizte ihn sogar unter dem sich bauschenden Mantel. Es war nicht nur eine rein körperliche Anziehung. Ja, sie machte ihn verrückt, aber er hatte sie auch gern. Er hatte sie sehr gern. Vielleicht war es einfach ein natürlicher Überlebensinstinkt gewesen, der ihn ihr gegenüber so misstrauisch hatte sein lassen. Weil er wusste, dass es ihn zerstören könnte, wenn er seinen Gefühlen nachgab. Sie konnte hervorragend diskutieren – und doch hatte er sie ausgewählt, um sich ihr in den Debatten zu stellen. Weil sie eine Herausforderung und weil sie so authentisch war. Sie hatte nicht einen Funken Überheblichkeit, und ihr Lachen war ebenso charmant wie ihre Sturheit.
Ihre Offenheit war sein Verderben. Als sie gestern Abend die Tür geöffnet und ihn hereingelassen hatte, um dann das seidige Nichts, das sie trug, fallen zu lassen und sich auf die Zehenspitzen zu stellen für einen Kuss … In der Dunkelheit des eleganten alten Schlafzimmers, in dem die Vorhänge hinter ihr im Wind raschelten, war jeder Rest von Intelligenz und Vernunft wie weggeblasen gewesen.
Und als sie später geschlafen hatten und sie begann, sich hin und her zu wälzen und inmitten ihres Traumes aufzuschreien …Er kannte das Gefühl. So tief in einen Traum versunken zu sein, so verzweifelt zu versuchen aufzuwachen, voller Angst, dass es nicht gelänge, dass sich der Traum immer wieder und wieder bis in alle Ewigkeit abspulte, ein endloser Kreislauf der Hölle.
Seine Dienststelle hatte ihn zu einem Psychiater geschickt, doch schließlich hatte er die Einheit verlassen. Er war entschlossen gewesen, die Albträume selber zu besiegen, indem er etwas gegen das Problem tat, das sie in erster Linie verursacht hatte.
Fast zwei Jahre waren seit dem Unfall vergangen, der die Kinder getötet hatte, und der Traum holte ihn ab und an noch immer ein. Und er erinnerte sich immer daran, wenn er aufwachte.
Er hatte das Gefühl, dass Rowenna sich ebenfalls an ihren Traum erinnerte.
So viel zu ihrer Offenheit mir gegenüber, dachte er.
Die Zeit würde es zeigen.
Zeit … Aus der Dämmerung wurde Dunkelheit. Ein Wachmann in Uniform bat jeden, den Friedhof zu verlassen. Jeremy entschied, bei Tageslicht wiederzukommen. Er würde jeden Meter des Friedhofs abgehen, jeden Grabstein untersuchen und herausfinden, ob Mary durch irgendeinen geheimen Ausgang fortgebracht worden war, wie es ihn in der Familiengruft auf der Flynn-Plantage gab. Oder ob man sie irgendwie in die Halloween-Menge hineingezogen hatte. Es wäre leicht genug gewesen. Ein Knebel im Mund, ein Kapuzenkostüm, das ihr Gesicht verbarg. So hätte man sie zu zweit wegbringen können. Ganz wie gute Freunde: Die beiden Nüchternen halfen dem Dritten, der über den Tag ein paar
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