Erntemord
Maisfeld, sondern sie ging hinein. Ihr Wagen befand sich nur wenige Schritte hinter ihr. Jede Minute konnte jemand vom Automobilclub kommen, um ihren Tank wieder aufzufüllen, und dann würde sie wie geplant in die Stadt zu Joe fahren und sich danach mit Jeremy und seinem Freund Brad zum Lunch treffen.
Sie musste in das Maisfeld gehen und die Furcht besiegen. Nein, sie musste in das Maisfeld gehen, weil die Krähen sieriefen, weil eine der Vogelscheuchen ziemlich nahe war. Und wenn sie nicht hinging und ihr ins Gesicht sah, dann …
Der Tag verdunkelte sich plötzlich, als eine Wolke vor die Sonne zog. Sie schauderte.
Idiotin, schalt sie sich.
Auf der anderen Seite …
Sie hasste es, wenn in den Filmen die dumme Heldin – die immer jung, wunderschön und nur leicht bekleidet war – sich allein in sichere Gefahr begab.
Rowenna hielt inne und lächelte. Sobald der Automobilclub-Typ käme, würde sie nachschauen, was dort draußen im Maisfeld los war.
Nicht, solange sie allein war.
Sie wandte sich um. Eine Krähe saß auf der Haube ihres Wagens.
Der Vogel starrte sie an, krächzte und schlug wütend mit den Flügeln, bevor er sich in die Luft erhob, davonsegelte und schließlich auf einer Vogelscheuche landete, die in der Ferne gerade noch sichtbar war. Währenddessen kreisten seine Artgenossen noch immer krächzend über dem Feld.
Sie stand bei ihrem Wagen. Sie wollte sich weder von einem Traum noch von der unheimlichen Anwesenheit der Krähen kontrollieren lassen. Sie blickte zum Ende der Straße, wo die Felder endeten und sich die ersten Gebüsche, Bäume und Behausungen zeigten. Es schien alles weit fort zu sein, doch es war tröstlich zu wissen, dass die Felder tatsächlich endeten, dass Menschen dort drüben wohnten, dass es dort Häuser und Bäume und keine Vogelscheuchen gab.
Gold, orange, tiefrot und gelb schimmerten die Bäume in der Ferne. Das war ihr Zuhause im Herbst, der schönsten Jahreszeit, und sie würde sich das durch nichts kaputt machen lassen. Sie schloss die Augen und dachte an die nahe gelegeneKüste, daran, wie sich die Granitfelsen über dem windgepeitschten Meer erhoben.
Die Straße blieb leer. Kein einziger Wagen fuhr vorbei.
Sie schlang schützend die Arme um ihren Körper. Sie hörte, wie der Wind auffrischte, und spürte eine scharfe Kälte in der Luft. Bald würde der Winter kommen. Doch im Moment badete sie noch in der himmlischen Schönheit des Herbstes. Um sich von ihrer verstörenden Vision abzulenken, zwang sie sich, an die Wärme der Erntedankfeuer zu denken. An lachende Menschen und heißen Apfelwein. Kürbiskuchen. Truthahn, Dressing, Cranberry-Soße, Kartoffelpüree, grüne Bohnen …
Wo zum Teufel blieb der Mann vom Automobilclub?
Als ihr Handy klingelte, erschrak sie dermaßen, dass sie es fallen ließ. Sie hob es rasch auf und meldete sich etwas atemlos.
Es war Jeremy.
„Hey“, sagte sie.
„Selber hey. Geht es dir gut?“
„Ja. Alles in Ordnung.“
„Wo bist du?“
Sie verzog das Gesicht. Sie wollte ihm ungern erzählen, dass ihr das Benzin ausgegangen war. Dass sie nicht einmal die Anzeige kontrolliert hatte, als sie losgefahren war. Wobei ihr selbst dann nichts anderes übrig geblieben wäre, als den Automobilclub anzurufen, denn sie wäre ja nicht mehr allein zur nächsten Tankstelle gekommen.
„Auf der Straße“, sagte sie. Das war zumindest nicht falsch. Er schwieg einen Moment. Als ob er etwas wüsste. Vielleicht wusste er es tatsächlich. Sie würde darauf wetten, dass Joe ihn angerufen hatte.
„Mir ist das Benzin ausgegangen“, sagte sie tonlos.
Es wäre nicht gut, bei einer Lüge ertappt zu werden, argumentierte sie innerlich.
„Wir sind auf dem Weg und fast bei dir. Bleib einfach, wo du bist, ja? Vielleicht solltest du dich im Wagen einschließen.“
„Jeremy, hier ist keine Menschenseele, so weit das Auge reicht“, erwiderte sie trocken. „Und schon mal gar kein Mann vom Automobilclub“, fügte sie mit einem Auflachen hinzu.
„Dennoch …“
Eine der Krähen kam plötzlich näher und stieß fast auf sie herab.
„Was zum Teufel war das?“, fragte Jeremy.
„Eine Krähe“, antwortete sie und konnte den Schauder nicht unterdrücken.
„Das habe ich gesehen. Genau das habe ich gesehen!“, rief Brad aus und drehte sich auf dem Beifahrersitz zur Seite, um Jeremy anzuschauen.
Jeremy war überrascht vom Ausbruch seines Freundes. Jedes Mal, wenn es den Anschein hatte, dass Brad sich zusammenriss, fing er plötzlich mit
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