Erntemord
Mädchen verschwunden. Ihre Freunde glaubten, sie hätte einen Weg gefunden, die Gegend zu verlassen, bevor man sie beschuldigen konnte. Ihre Feinde waren sicher, dass sie vor der Gerechtigkeit geflohen war.
Sie wurde niemals gefunden. Vielleicht war sie tatsächlich irgendwo anders hingegangen, hatte ihren Namen geändert und keine Spur ihrer Existenz hinterlassen.
Doch mit dem Beginn des achtzehnten Jahrhunderts gab es immer mehr Vermisstenfälle. Und dann wurden Knochen – menschliche Knochen – in einem Maisfeld gefunden.
Rowenna starrte auf das Gelesene und keuchte auf. „Was?“, fragte Daniel.
„Im achtzehnten Jahrhundert hat man Knochen in einem Maisfeld gefunden!“, rief sie aus und blickte ihn an. „Warum habe ich nie davon gehört? Ich muss mehr darüber lesen.“
Er legte sein Buch beiseite und stellte sich hinter sie. Rowenna las laut vor.
„‚Das Fleisch war bis auf die Knochen weggepickt, und sie hatte kein Blut mehr. Kratzer auf dem Schädel wiesen darauf hin, dass Vögel ihr die Augen ausgepickt hatten. Andere Raubtiere und Aasfresser hatten sich ebenfalls bedient, sodass die armen Knochen völlig verstreut gefunden wurden. Niemand wurde der Gerechtigkeit zugeführt, um für den Mord zu büßen, noch geschah dies in den folgenden Jahren. Erst nach dem Verschwinden von Annie Rigby in den zwanziger Jahren gab es einen Verdächtigen. Die Leute tuschelten von einem Schnitter. Manchmal sagten sie, dass er schwarz sei, denn es war die Rasse und Hautfarbe der armen Tituba, die sie in den Augen der Leute zur Hexe stempelten. Sie stammte aus einem fremden Land und löste auf diese Weise die Hexen-Hysterie aus, die das Zeitalter der Dunkelheit nach sich zog. Aber diese Tage waren nun vorüber. Man konnte keinen Hexen mehr die Schuld geben. Da behaupteten sie, es sei der Teufel selbst in der Gestalt des Schnitters. Doch Annie Rigby war in der Gesellschaft eines Mannes gesehen worden, und als man seine Hütte stürmte, lachte er zwar über die Anschuldigung der Hexerei, doch er erzählte seinen Anklägern, dass er tatsächlich den Allerheiligsten anbete und dass der Allerheiligste niemand anderes sei als Satan selbst. Vor Gericht sagte Andrew Cunningham, dass er der Fleisch gewordene Teufel sei, dass der Teufel mit ihm in seinem Körper zusammenwohne und dass er seine Schuld einfordere. Man aß, man überlebte, weil man dem Teufel seinen Teil gab. Also wurde Andrew Cunningham – der auch behauptete, Satan in Menschengestalt zu sein – zum Tod durch den Strick verurteilt, doch am Tage der geplanten Hinrichtung konnte man ihn nicht finden. Tatsächlich durchsuchten sie den gesamten Kerker – denselben Kerker unter dem Büro des Sheriffs, wo keine drei Jahrzehnte früher so viele ihr Schicksal erwartet hatten, jene Grube voller Abwässer und Ratten, der nie zuvor jemand entronnen war. Cunningham war fort, und die Menschen hatten große Angst – nicht davor, dass er wieder zwischen ihnen leben könne, sondern davor, dass der Teufel frei herumlief. In ihrer Wut zerrten sie seine alte Haushälterin aus dem Haus und hängten sie, schließlich lautete das Sprichwort, dass der Teufel eine Magd braucht.‘“
Daniel lugte über ihre Schulter und sah, dass sie das Ende der Seite erreicht hatte. „Ist das alles?“, fragte er.
Rowenna blätterte um und starrte auf die nächste Seite. Dort stand nur ein Satz, der das Kapitel beendete.
Sie sah zu ihm auf und las dann weiter.
„‚Der Schnitter wird wiederkehren.‘“
10. KAPITEL
Gegen Mittag saß Jeremy mit Joe Brentwood in der Bar des Hawthorne Hotels. Gemeinsam gingen sie jede Vermisstenmeldung aus dem Nordosten durch, eine zeitraubende Angelegenheit.
Er war überrascht gewesen, dass Joe ihn mehr oder weniger entgegenkommend an jedem Aspekt der Ermittlung teilhaben ließ. Als er ihm dafür dankte und nach dem Warum fragte, hatte Brentwood nur die Achseln gezuckt und gesagt: „Mein alter Herr hat mir immer geraten: Halte deine Freunde nah und deine Feinde noch näher.“
„Aber ich bin nicht Ihr Feind“, hatte Jeremy erwiderte.
„Das ist noch nicht entschieden.“
Jeremy hatte es vorgezogen, sich darüber nicht zu streiten.
Auf jeden Fall schien Joe zu glauben, dass Jeremys Fähigkeiten und Erfahrungen bei den Ermittlungen hilfreich sein konnten – Ermittlungen, die der Suche nach der Nadel im Heuhaufen glichen, bei der man nicht wusste, ob die Nadel überhaupt existierte.
Also waren sie die Daten durchgegangen und hatten ihre Arbeit nur
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