Ernten und Sterben (German Edition)
Verkehrte Welt!« Der Redaktionsleiter bestellte sich einen Doppelkorn.
»Sie trinken zu viel, Chef, wenn mir die Bemerkung erlaubt sei«, sagte Egon-Erwin und bereute seine Offenheit sofort.
»Ach was, das meiste verschütte ich.« Der alte Haudegen kippte seinen Rest Hochprozentiges in Egon-Erwins Currywurst-Schale. »Hauen Sie rein und erzählen Sie, was Sie herausgefunden haben. Schließlich haben Sie sich heute Morgen in der Redaktion nicht sehen lassen …«
Eine peinliche Pause entstand, in der Chantal das Tonic Water auf den Tresen stellte.
Egon-Erwin räusperte sich. »Die Ärztin und der Antiquar sind unschuldig. So viel ist sicher. Das Künstlerehepaar könnte jeder umgebracht haben. Die haben alle genervt. Er mit seinen peinlichen Happenings und sie mit ihrem veganen Tick. Die haben mal auf dem Dorfplatz einen Gottesdienst mit veganen Hostien veranstaltet. Sie hat wie eine Öko-Furie ausgesehen, mit Blumenkranz im Haar, und ist barfuß durch die Gegend gehüpft, während er sich als Pastor mit blutverschmierter Kutte verkleidet hat. Die Prozession endete vor der Schule, also vor dem Atelier, und eine Blaskapelle in Lederhosen hat irgendein Oratorium gespielt. Das alles hat ziemlich scheiße geklungen, so wie eine Polka aus Polen. Ich hab damals die Fotos gemacht und musste zehn Bier kippen, um mich von dem Quatsch zu erholen. Das war aber vor Ihrer Zeit.« Egon-Erwin entsorgte die ungenießbare Currywurst im Mülleimer neben der Würstchenbude.
»Das hab ich gesehen, Zipfelklatscher. Komm bloß wieder und ich hau dir sieben Komma eins Millionen Scoville in die Soße. Du Depp, du damischer!« Dieter schrie den Fluch, so laut er konnte.
»Hoit dei Fotzn!«, brüllte Egon-Erwin mit roten Flecken im Gesicht zurück. »Sag deiner Schnalle, dass sie mir endlich noch was zu trinken bringen soll.«
»Hol’s dir doch selber«, mischte sich Chantal ein.
»Dafür zahl ich doch Geld, ihr kleinen Würstchen«, rief Egon-Erwin.
»Das kleine Würstchen steht doch direkt neben dir, oder ist der abgebrochene Meter nicht dein Chef, du Schmierfink«, krakeelte Dieter.
»Ich bin der Boss, und deshalb will ich Sie gleich vor dem Computer sehen, Wutke. Sie liefern eine erste Seite ab, die der Konkurrenz schlaflose Nächte und uns einen neuen Auflagenrekord bescheren wird. Glück auf!« Der Redaktionsleiter drehte sich auf dem Absatz um und eilte im Sturmschritt Richtung Verlagsgebäude.
»Bring mir ’ne ›Nervenschocker‹, Dieter.« Egon-Erwin verschlang die Currywurst in rekordverdächtigen fünfundvierzig Sekunden.
Egon-Erwin Wutke war sein Job egal. Er wusste genau, dass er diesen Fall lösen würde. Und dann stand ihm in Hamburgs Medienwelt jede Tür offen. Also machte er sich auf den Weg zur Schule. Diesmal hatte er sein Spezial-Equipment eingepackt, das aus einer Spezialbrille bestand, in der eine Kamera eingebaut war. Zwei Stunden Videoaufnahmen waren kein Problem und lieferten hochwertiges Material für die Homepage der Landeszeitung. Auch Fotos zu schießen, war kein Problem.
Sicherheitshalber hatte er sich die Nerd-Brille mit null Dioptrien bereits im Auto aufgesetzt. Vor dem Wohnhaus der Künstler herrschte kaum noch Betrieb. Vier Polizisten sperrten das Gelände zur Straße hin ab. Die Fernsehsender hatten ihre Übertragungswagen nach der Pressekonferenz abgezogen. Nur einige Freie standen in kleinen Grüppchen herum und sahen so gelangweilt aus, dass ihr Gähnen wie hektische Betriebsamkeit wirkte.
Egon-Erwin hatte genug gesehen und stieg wieder ein. Keiner hatte ihn erkannt. Den Polizisten war seine Anwesenheit egal, und die Kollegen aus Hamburg kannten ihn nicht. Er fuhr aus Klein-Büchsen hinaus und bog links in einen Feldweg ein, fuhr an einem Bauernhof vorbei und parkte direkt neben einem Platz, auf dem geerntete Heuballen zwischengelagert wurden. Den Rest des Weges legte er zu Fuß zurück.
Langsam wurde es albern, sich immer durchs Unterholz zu quälen, dachte Egon-Erwin, als er an der hinteren Grundstücksgrenze zur Schule stand. Er konnte das mächtige Gebäude nicht verfehlen, also wagte er sich einfach auf das Gelände. Der Maschendrahtzaun war vollkommen verrottet.
»Maschendrahtzaun in the morning, Maschendrahtzaun late at night. Maschendrahtzaun in the evening, Maschendrahtzaun makes me feel alright. And if I ever be king and I get a crown, then it would surely be made of Maschendrahtzaun …«, summte er vor sich hin, bis ihm ein zackiges »Stehen bleiben!«
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