Ernten und Sterben (German Edition)
geraten, der skrupellos Jagd auf alles machte, was ihm im Weg stand. Doch was trieb diesen Heckenschützen an? Wollte er eine Rechnung aus alten Tagen begleichen? Egon-Erwin hatte Kopfschmerzen und fühlte sich ausgelaugt. Und diesmal hatte er nicht die Nacht am Tresen verbracht, um mit irgendwelchen Bauern über Ackerbau und Viehzucht zu diskutieren, sich über die Unfähigkeit der Kommunalpolitiker zu beschweren oder das Leben im Großen und Ganzen zu bejammern. In Klein-Büchsen herrschte eine lange Tradition der Querköpfe, die bis ins 14. Jahrhundert reichte. Streitbare Bauern, die sich nicht die Butter vom Brot nehmen ließen, nervten seit jeher die Oberen. Egon-Erwin wollte in den nächsten Tagen noch tiefer in die Archive einsteigen.
Doch er war erst einmal beschäftigt, die jüngere Geschichte aufzuarbeiten. Dabei musste er feststellen, dass seine Lokalredaktion ihren Namen nicht verdiente. Zwar hatten die Kollegen und er kein Schützenfest ausgelassen, aber sich wirklich nie um die sozialen Belange der Gemeinde gekümmert. Die Bürgermeister regierten wie kleine Landadelige nach dem Motto »Eine Hand wäscht die andere«, selbstherrlich und weitgehend ohne Kontrolle. Nun stand eine neue Durchgangsstraße auf der Agenda, die der Kreistag an den Landtag durchgewinkt hatte. Am Ende würde man eine Schneise durch das Dorf schlagen, und vorbei wäre es mit der Ruhe. Nix mehr mit Landliebe und so. Doch warum sollten sich die zugereisten Städter gegenseitig die Köpfe abschneiden? Es ergab keinen Sinn.
Das einzig Reale an diesem frühen Mittag war der Hunger, der sich nun im Magen von Egon-Erwin breitmachte. Er schlurfte zum Kühlschrank und fand nur das Übliche vor: Dosenbier im Überfluss und Spreegurken. Mühsam quälte er sich in seine Jeans, die immer zwei Nummern zu klein waren, und streifte ein Lacoste-Shirt über.
Die Fußgängerzone von Lüneburg war belebt wie immer. Doch die Auswahl an Fast Food blieb überschaubar. Fischbrötchen oder Hamburger. Egon-Erwin ließ die vielen Bäcker links liegen und steuerte zielstrebig einen Bratwurststand an.
»Hallo, du Würstchen!«, rief er dem langhaarigen Inhaber entgegen, der seinen Berufsstand perfekt verkörperte. Er war klein, fett und hatte rote Backen. Nur das Alter war schwer zu schätzen. Curry schien jung zu halten und gegen Haarausfall vorzubeugen.
»Dein Würstchen möchte ich nicht sein. Klein, ausgetrocknet und hässlich«, sagte Dieter.
»Werd mal nicht komisch, du Würschtelbrater, oder geh nach Hause zu deinem Namensvetter, diesem ausgekochten Bayernmanager mit den Wurstfingern«, erwiderte Egon-Erwin und wartete auf sein Mittagessen. Dann stand sie vor ihm, die »Elbgranate«. Der Schärfegrad sechstausend Scoville war gerade noch erträglich für Normalsterbliche und lag nur unwesentlich über dem Schärfegrad von Tabasco. Dieter konnte sich noch auf sieben Komma eins Millionen Scoville steigern. Mit seiner Kreation »Sterbehilfe« gewann er seit Jahren den Curry-Cup in Hamburg-Harburg. Sein Erzfeind aus Remscheid vom »Kulli-Nari« biss regelmäßig in den Holzlöffel.
»Bierchen?«, fragte Chantal, die stark geschminkte, außerordentlich blonde Ehefrau von Dieter, und wischte feucht über den Stehtisch. Dabei ließ sie einen tiefen Einblick in ihr üppiges Dekolleté zu.
»Nee! Ein Eimer Tonic Water wär mir jetzt lieber.«
»Null Problemo«, sagte Chantal und ging zum Kühlschrank des Verkaufswagens.
»Aber flieg bitte nicht bis nach Melmac, um das Gesöff zu holen«, rief ihr Egon-Erwin hinterher. Er wusste, dass Chantal unsterblich in Alf verliebt war, ihren Serienliebling aus den späten Achtzigern. Nur so ließ sich ihre üppig toupierte Haarpracht erklären. Sie war der Traum seiner schlaflosen wie feuchten Nächte, der fleischgewordene Herrenwitz. Egon-Erwin spürte die Enge seiner Jeans im Schritt immer deutlicher.
»Hab Sie schon vermisst, Sie alter Bluthund.«
Egon-Erwin zuckte zusammen, als sein Redaktionsleiter ihm beherzt in den Rücken boxte. In weitem Bogen flog ein angebissenes Stück Wurst durch die Luft, und wie in Zeitlupe sah er es direkt auf dem Tresen der Würstchenbude landen.
»Du bist eine alte Drecksau.« Dieter wischte den Happen in die Fritteuse, die böse zu zischen begann.
»Nirgends hat man seine Ruhe«, brummte Egon-Erwin.
»Ruhe haben Sie nur, wenn Sie die Radieschen von unten sehen, wie diese Leiche im Garten Ihrer Freunde. Andere haben Leichen im Keller, und die düngen damit das Gelände.
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