Ernten und Sterben (German Edition)
direkt unter den Augen des Polizisten ein Wettrennen. Die Bulldogge hatten sie ganz offensichtlich nicht bemerkt. Dabei hatte das bullige Vieh neben Egon-Erwin jeden Muskel angespannt und wartete nur auf die beste Gelegenheit zuzuschlagen. Dann startete es mit allen vier Hundetatzen auf einmal durch, und die wilde Jagd begann. Der erste Hase schlug in Todesangst Haken, doch die Bordeauxdogge hatte einen jahrhundertealten Killerinstinkt und schnappte sich ihr Opfer, um es mit einem Biss abzumurksen.
Der Polizist hatte seine Dienstwaffe gezogen und zielte zitternd in Richtung Jagdhund, hätte aber nicht einmal einen Elefanten getroffen. Sein Mund öffnete und schloss sich, er rief lautlos nach Hilfe.
Aus dem Funkgerät quäckte die Stimme eines Kollegen. »Anton 5 an Fiete 1. Was ist los bei dir?« Es folgte das typische Knacken und quietschende Rückkopplungen.
Aber Fiete 1 war nicht ansprechbar.
Die Dogge ließ sich von nichts beirren und trieb die anderen zwei Hasen vor sich her wieder zurück durch den Garten. Sie erwischte Nummer zwei im Genick und schleuderte den Hasen hoch in die Luft, immer wieder und wieder, bis der Polizist die Beherrschung verlor und sein Magazin gen Himmel entleerte. Es klang wie eine Batterie D-Böller. Sofort ließ die Dogge von ihrem Opfer ab, das eh nur noch ein blutiges Fellknäuel war. Brav machte sie neben der Beute Platz und wartete auf Herrchen. Doch statt Herrchen tauchten zwei Polizisten mit schusssicheren Westen und Maschinenpistolen im Anschlag auf.
Egon-Erwin rechnete inzwischen mit einem Massaker. Aber es war nur die Sirene eines Krankenwagens zu hören. Vor dem Schulhaus wurden kurze Kommandos gebrüllt. Die Pressevertreter mussten in Schach gehalten und gleichzeitig musste Platz für die Hundefänger geschaffen werden, die mit einer Hollywood-verdächtigen Vollbremsung vor der Schule stoppten. Zu zweit bugsierten sie die Dogge in einen großen Transporter. Ihr wichtigstes Hilfsmittel dabei war ein blutiges Steak, das mindestens drei Kilo schwer war und aasig tropfte. Der Jagdhund konnte sich nicht entscheiden. Das Steak roch verführerisch, aber der Instinkt zu töten war stärker. Nun rannte ein Tierfänger der Dogge hinterher, während der zweite dem Tier den Weg abschnitt und sich wie ein Fullback auf das Tier stürzte. Diesen Spielzug hatte er sich bei der letzten Übertragung des Super Bowl eingeprägt.
Dann kamen die Sanitäter und setzten dem schießwütigen Beamten eine dicke Beruhigungsspritze. Egon-Erwin schüttelte ungläubig den Kopf. In diesem Moment bemerkte er, dass seine Agentenbrille alles aufgenommen hatte und der Speicherplatz sich allmählich dem Ende zuneigte. Hinter dem Haus war inzwischen Ruhe eingekehrt, während sich vor dem Eingang tumultartige Szenen abspielten. Jeder wollte ein Bild von dem tapferen Polizisten und Doggenzähmer, und niemand ahnte, dass es sich um einen Hasenfuß handelte.
Lautlos und schnell schlüpfte Egon-Erwin in die Küche des Schulhauses. Von dem Schlachtfeld war nicht mehr viel zu sehen. Die Spurensicherung hatte alle Indizien gesichert und abtransportiert. Allerdings hatten die Tatortreiniger noch nicht mit der Arbeit begonnen. Egon-Erwin filmte die eingetrocknete Blutlache auf dem gefliesten Boden genauso wie die eindrucksvollen Spritzer auf dem glänzenden Aluminium und die Haarbüschel der Veganerin. Der Herd war blitzsauber bis auf eine Kochstelle, deren angebrannte Kruste auch jetzt noch bestialisch stank. Hier hatte der Killer wohl irgendein Körperteil gebraten.
Langsam stieg Übelkeit in Egon-Erwin hoch. Würgend machte er noch ein paar totale Einstellungen und verließ dann die Küche in Richtung Atelier. Hier stockte ihm endgültig der Atem. Die Umrisse von Siegried Aurich waren sorgsam mit Kreide nachgezeichnet, die Tatortschilder standen fein säuberlich nummeriert an ihren ursprünglichen Plätzen. Egon-Erwin filmte alles wie ein Profi, bis der Speicher voll war.
Einen kurzen Moment wollte er dem Toten die letzte Ehre erweisen und stellte sich neben den Arbeitstisch, auf dem zweifelsohne Siegfried Aurich seinen letzten Atemzug getan hatte.
Verdammte Scheiße. Da fehlte ja der Kopf auf der Kreidezeichnung! Was stattdessen Blut oder rote Farbe gewesen sein könnte, ließ sich nicht mehr feststellen. Aber Egon-Erwin behielt die Nerven. Er schloss seine Kamerabrille via USB an sein Smartphone an und begann mit der Datenübertragung. Dann löschte er die Datei in seiner Brille und zertrat das Gestell mit
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