Ernten und Sterben (German Edition)
Waschbecken, um sich ihre Hände zu desinfizieren.
Gunnar lag auf der Liege wie ein totes Pferd und rührte sich nicht mehr.
»Das kommt von diesem unzivilisierten Sport, den Sie früher getrieben haben. Wer anderen ins Kreuz springt, hat selbst kein Rückgrat.«
Natürlich musste Albertine Gunnar an seine unrühmliche Zeit als Wrestler erinnern. Die Hamburger Kiezgrößen hatten stets auf seinen Sieg gewettet und waren alles andere als zimperlich, wenn sie Geld verloren. So war aus Gunnar langsam, aber sicher eine Art Bodyguard mit der Befugnis zum Töten geworden. Bevor er selbst zum Opfer seines Milieus wurde, hatte er sich nach Klein-Büchsen abgesetzt und sorgfältig an einer neuen Identität gearbeitet. Nur Albertine hatte ihn sofort an seinen Narben erkannt, die sie im Unfallkrankenhaus Altona in der Notaufnahme behandelt hatte. Aber auch auf dem Land galt immer noch die ärztliche Verschwiegenheitspflicht.
»Ich mach es wieder gut. Kommen Sie morgen um sechzehn Uhr zur Dorflinde, dann erzähle ich Ihnen, was ich gehört habe.« Gunnar erhob sich schwerfällig und streifte sich sehr nachlässig die Kleidung über.
»Hochmut kommt vor dem Fall«, brummte er noch, als er die Praxis verließ. Albertine wusch sich noch immer ihre Hände. Wahrscheinlich hatte sie seine letzten Worte nicht mal gehört.
Hubertus saß seit Ewigkeiten vor seinem uralten und eingestaubten Laptop und versuchte, dem Gerät wieder Leben einzuhauchen. Die Verbindung zum Internet herzustellen, war das kleinste Übel gewesen, weil die Polizei die externen Geräte nicht mitgenommen hatte. Doch der Versuch, seine Daten mit dem virtuellen Server irgendwo in den Untiefen des Netzes zu synchronisieren, brachte ihm noch mehr graue Haare ein. Um die Download-Wartezeit zu überbrücken, beschloss er, sein Mittagessen ausnahmsweise bei Sören Severin einzunehmen. Am liebsten draußen, um einem Spießrutenlauf im Lokal aus dem Weg zu gehen.
Tatsächlich hatte das Wetter ein Einsehen, und die milde Luft verfing sich in Hubertus’ Bart und streichelte gleichzeitig seine Glatze. Zielstrebig steuerte er die »Heideblume« an und belegte den letzten freien Platz in der Frühlingsfrische.
Wie immer in der Wochenmitte half Anna Christensen aus. »Ich hätte da Giersch mit Kartoffelschnee und Ei im Angebot«, sagte sie, als sie Hubertus seinen geliebten Ingwertee hinstellte.
»Da ist ja meine Fürstin der Finsternis«, sagte er.
»Schön wäre es ja.« Anna schüttelte ihr pechschwarzes Haar. Ihr Teint war vornehm blass, die Gesichtszüge wirkten aristokratisch vornehm. Ihre Augen konnten glühen wie heiße Kohlen, und sie betonte ihr Aussehen mit blutrot geschminkten Lippen. Immer musste Hubertus an die Witwe eines legendären Verlegers denken, die ihr Unternehmen wie einen kleinen Hofstaat lenkte. Oder an eine Hexe aus den Märchen der Gebrüder Grimm. Oder an die Gothic-Sängerin Amy Lee.
»Giersch wirkt beruhigend und entzündungshemmend. Ist genau das, was du jetzt brauchst. Die wissenschaftliche Bezeichnung lautet Aegopodium podagraria. Das wird dich interessieren. Du bist doch ein wandelndes Lexikon«, sagte Anna.
»Und du warst in einem fernen Vorleben eine Kräuterhexe. Im Mittelalter vielleicht. Wer weiß?« Hubertus richtete seinen Blick in die Unendlichkeit.
»Ich glaub nicht, dass ihr Mörder seid, du und Albertine. Wir aber auch nicht. Severin und ich haben beide Nächte zusammen verbracht. Im Dorf schießen die Gerüchte ins Kraut so giftig wie Riesenbärenklau.«
»›Schöne Blumen wachsen langsam, nur das Unkraut hat es eilig.‹ Hat schon der alte Shakespeare gewusst. Aber wer steckt hinter dem ganzen Wahnsinn? Jemand aus dem Dorf oder ein Psycho aus der Stadt?« Hubertus nippte an dem Ingwertee.
»Das Essen kommt gleich, vorher muss ich mich noch um die anderen Gäste kümmern«, sagte Anna und lief ins Innere der Gaststätte.
Egon-Erwin lag um die Mittagszeit noch in seinem Bett. Er hatte sich nachts in das Archiv seines Verlages eingeloggt und alle Meldungen der letzten fünfzehn Jahre gelesen. Auf seinem Schreibtisch lag ein kleiner Berg mit Ausdrucken, die er noch einmal durchgearbeitet hatte. Er wollte beweisen, wie sehr er sich in den Fall reinhängte, obwohl es ja nicht zu dem Schwur zwischen ihm und Albertine und Hubertus gekommen war.
Die Angst hatte sich erst viel später eingestellt und von seinem Körper Besitz ergriffen. Zum zweiten Mal innerhalb nur weniger Stunden war er ins Fadenkreuz eines Verrückten
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