Ernten und Sterben (German Edition)
schieben wie einen bockigen Schüler.
»Wir treffen uns in einer Stunde in meinem Büro zur Lagebesprechung, Müller Zwo«, sagte Müller Eins, drückte die lange, dünne Zigarette in den Aschenbecher und stöckelte energisch zur Tür hinaus.
»Egon-Erwin kommt erst nach Redaktionsschluss. Das steht in der SMS , die er gerade geschickt hat«, hatte Hubertus zu Albertine gesagt, als sie in ihre Praxis ging. Jetzt wunderte sie sich, dass kein Patient im Wartezimmer saß.
Sie wandte sich zu Clementine, die hinter ihrem Tresen saß und die Abrechnungen für Privatpatienten ausdruckte. »Was ist heute los? Gestern gab es noch eine Schlange bis auf die Straße, und heute ist niemand krank. Das kann doch nicht wahr sein. Haben Sie etwas gehört, Clementine?«
Auf die Frage erntete sie nur ein vieldeutiges Schweigen und das leise Quietschen des Druckers.
»Dann gehe ich mal frische Luft schnappen.«
Vor der Tür blieb sie kurz stehen und reckte sich, um dann die drei Stufen zum Vorgarten hinunterzugehen. Alles fing an zu wachsen und zu blühen. Albertine hatte tatsächlich den grünen Daumen.
Dann lief sie zielstrebig die Straße entlang, fest entschlossen, keinen Passanten eines Blicks zu würdigen. Doch das war ebenso überflüssig wie kindisch, denn es kam ihr niemand entgegen. Vor einem Einfamilienhaus aus Backstein blieb sie stehen und zögerte einen Moment. Dann drückte sie die Klingel.
»Bin im Garten!«, rief eine glockenhelle Stimme aus dem Garten.
Albertine kannte den Weg und ging in den hinteren Teil des Gartens, der wie die Kopie ihres eigenen aussah. Lisa Feld kniete auf dem Boden und beharkte ihr Radieschenbeet. Sie hätte ohne Weiteres als die jüngere Schwester von Albertine durchgehen können, besonders wenn die beiden Partnerlook trugen, was allerdings selten der Fall war. Während Albertine reserviert und ein wenig blasiert wirkte, war Lisa die reinste Frohnatur, die immer munter vor sich hin plapperte.
»Da hast du uns ja was eingebrockt, Darling«, sagte Lisa.
»Das beruht wohl auf Gegenseitigkeit«, erwiderte Albertine.
»Wer lag eigentlich bei dir im Beet? Ein Patient oder dein Liebhaber? Ach nein, dann würde ja Hubertus nicht mehr unter uns weilen. Aber wer war es dann? Dein Doktorvater? Du hast ihn abgemurkst, weil du bei deinem Doktortitel geschummelt hast. Das macht ja heute jeder. Bin ich froh, dass ich nur einen Magister habe und …«
»Du plapperst wie ein Teenager, Lisa, und das in deinem Alter. Das hält ja kein Mensch aus. Kein Wunder, dass dich deine Schüler so lieben. Früher nannte man das Backfisch. Lest ihr eigentlich den ›Trotzkopf‹ in der Grundschule? Also zum Mitschreiben: Hubertus ist nicht mein Liebhaber, das wäre nicht standesgemäß, und außerdem finde ich seine Bildungshuberei ziemlich enervierend. Ich bevorzuge muskulöse Männer, gestählt von der Feldarbeit, mit ehrlich verdientem Schweiß auf dem markanten Gesicht.« Albertine wirkte bei ihrer kleinen Rede seltsam entrückt.
»Fehlt nur noch ›flink wie ein Windhund‹.« Lisa fuchtelte Albertine mit einer Supermarkt-Harke vor der Nase herum. »Verschon mich mit deinen feuchten Phantasien! Dir ist wohl als Kind ’ne hinterpommersche Scholle auf den Kopf gefallen.«
»Lass das gefälligst, die Harke kostet nur eins neunundneunzig und ist Schrott«, sagte Albertine. »Rück lieber damit raus, was in der Gerüchteküche brodelt.«
»Keiner hat eine Ahnung, wer der Tote ist, und keiner hat ihn gesehen. Er scheint vom Himmel gefallen und direkt in deinem Beet gelandet zu sein. Nur die Polizei kann die Identität klären. Und da liegt das Problem. Die sitzen wohl auf einem Haufen Spuren, und die DNA -Analysen lassen auf sich warten. Man vermutet aber, dass die bald das ganze Dorf testen wollen, um einen Abgleich durchzuführen.« Lisa blickte Albertine direkt in die blauen Augen.
»Weiter. Die Kunstpausen kannst du dir für deine Schüler aufheben.«
»Den Rest kannst du dir denken. Das will hier niemand. Bei einem DNA -Test wird doch klar, wer wem welches Kuckucksei ins Nest gelegt hat. Da wirst du mit einem Schlag zum vierfachen Vater. Aber das ist nicht der einzige Grund, warum die Dorfgemeinschaft dich jetzt hasst. Möchte nicht wissen, wen du alles zum Krüppel gerenkt hast«, sagte Lisa, während sie das Radieschenbeet harkte.
Albertine hatte keine Lust und keine Zeit, auf weitere Sticheleien zu reagieren. Tatsächlich war ihr Nervenkostüm so dünn wie Papier. Lisa saß mal wieder im Glashaus
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