Ernten und Sterben (German Edition)
Zeitung lesen.« Egon-Erwin hatte langsam, aber sicher die Nase voll von Albertine von Krakow. Ihre Hochnäsigkeit war im Dorf legendär.
»Wir wollten heute um vier Gunnar treffen, aber er ist nicht gekommen«, sagte Albertine. »Wir haben eine Stunde an der Dorflinde gewartet, aber keine Spur von Gunnar. Niemand im Dorf hat ihn gesehen oder weiß, wo er ist.« Albertine hatte beschlossen, die Topfpflanzen zu ertränken, und ließ dem Wasser aus ihrer Gießkanne freien Lauf.
»Ihr Mitgefühl scheint sich aber in Grenzen zu halten, gnädige Frau«, sagte Egon-Erwin.
»Uns war es ja nicht vergönnt, eine Vereinbarung zu treffen, die jemand so schön pathetisch ›Eid der Einheit‹ genannt hat. Nicht wahr, Clementine? Ich jedenfalls schlage vor, dass wir ein Dinner in der ›Heideblume‹ einnehmen. Das dürfte doch unsere kleine Notgemeinschaft zusammenschmieden.« Selten hatte sie Hubertus so schnell das Haus verlassen sehen. Zusammen mit Egon-Erwin und Clementine versuchte sie Schritt zu halten.
Gunnar wehrte sich nach Kräften, aber er war mit dicken Hanfseilen auf einem Bett fixiert. Zwar hatten sich seine Augen an die vollkommene Dunkelheit gewöhnt, doch erkennen konnte er nichts. Seine sonst so untrüglichen Instinkte ließen ihn im Stich. Sein Gefühl für Raum und Zeit hatte sich verflüchtigt. Manchmal stürzte er ins unendliche Nichts, dann schwebte er im Raum. War er in einem Keller oder in einem riesigen Sarg? Er versuchte, sich zu konzentrieren, und konnte doch den Gedanken nicht vertreiben, lebendig begraben zu sein.
Die Panik fand ausschließlich in Gunnars Kopf statt, sein Körper reagierte nur noch mit gelegentlichen Zuckungen, die wie durch Stromstöße ausgelöst schienen. Das Schlucken fiel ihm schwer, die Schleimhäute waren ausgetrocknet, und seine Zunge fühlte sich an wie ein Stück Schmirgelpapier. Hunger verspürte er schon lange nicht mehr, dafür machte sich die Angst in ihm breit wie ein Nervengift. Wann hatte er das letzte Mal geweint? Als seine Mutter gestorben war. Verdammt lange her. Seine Augenwinkel füllten sich mit Tränen, die er ignorierte. In seine Angst mischte sich Verzweiflung und unbändige Wut.
Gunnar zerrte energisch und mit aller Kraft an seinen Fesseln, doch er konnte sie nicht lösen. Aber er spürte, dass das Bett schmal war. Und überraschend leicht. Er fing an, seinen Körper rhythmisch zu bewegen. Es waren nur ein paar Zentimeter Bewegungsfreiheit, aber er ließ nicht locker. Je mehr er sich selbst spürte, desto mehr gewann er wieder an Selbstvertrauen. Er würde hier rauskommen. Das Bett bewegte sich immer stärker, und fast hätte Gunnar es zum Umkippen gebracht, da ging eine Tür auf.
Die Augen zu Sehschlitzen verengt, konnte Gunnar die Umrisse einer Gestalt erkennen, die in gleißendem Licht erschien.
Das ist der Teufel, dachte Gunnar und schloss die Augen, weil er wusste, dass er jetzt sterben würde.
Der Teufel warf ihm eine stinkende Decke über den Kopf, und wenige Sekunden später durchzuckte ein gewaltiger Stromschlag Gunnar. Er wurde zu einem willenlosen Stück Fleisch. Seine linke Körperhälfte schien gelähmt, und auf der rechten Seite war nichts als ein stechender Schmerz. Gunnar wurde bewusstlos.
»Was darf es sein? Eine Kleinigkeit oder das Menü des Tages?«, fragte Sören Severin in die Runde, die beim Betreten des Schankraums lautstarkes Murren und Stühlescharren ausgelöst hatte.
Innerhalb weniger Minuten waren die übrigen Gästen gegangen und alle Tische frei.
Sören schien das nicht weiter zu stören. »Heute steht als Vorspeise Erbsenschaumsuppe mit Krabben auf der Speisekarte. Gefolgt von einem Wiesensalat mit Räucherfisch. Etwas Leichtes zum Hauptgang: Putenröllchen mit Spinatfüllung. Als Sättigungsbeilage gibt es dazu Rosmarinkartoffeln. Den Abschluss macht eine geeiste Quarkmousse mit Fruchtpüree. Dazu sollte man einen trockenen Weißburgunder trinken aus dem Hause Zwölberich an der Nahe. Natürlich aus biodynamischem Anbau.«
»Das habe ich ja schon lange nicht mehr gehört, die Sättigungsbeilage«, sagte Hubertus. »Das Wort stammt doch aus den unseligen Zeiten der DDR -Gastronomie. Da ist mir die Wiener Bezeichnung ›Zuspeise‹ doch wesentlich lieber, wenn auch …«
»Kannst du nicht einmal aufhören, uns mit deinem angelesenen Wissen zu nerven«, unterbrach ihn Egon-Erwin.
»Genau. Das ist ja nicht zum Aushalten«, ergänzte Albertine.
»Soll ich noch eine Flasche Mineralwasser bringen? Meine
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