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Ernten und Sterben (German Edition)

Ernten und Sterben (German Edition)

Titel: Ernten und Sterben (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter M Hetzel
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Gummibaum, den er von seinem Vorgänger geerbt hatte, doch im Regal befand sich schon seine eigene Handbibliothek. Der Sprachfetischist Wolf Schneider war einer von Egon-Erwins Helden. Die Bände »Deutsch! Das Handbuch für attraktive Texte«, »Deutsch für Profis: Wege zu gutem Stil« und »Gewönne doch der Konjunktiv! Sprachwitz in sechsundsechzig Lektionen« waren vollkommen zerfleddert. Daneben standen die bekannten Werke von Bob Woodward und Carl Bernstein. Vor den gesammelten Werken von Hunter S. Thompson blieb Egon-Erwin stehen und widmete dem Erfinder des Gonzo-Journalismus eine Gedenkminute. Dann setzte er sich wieder an den Schreibtisch und fing an, alles zu lesen, was das Archiv über seinen Helden hergab.
    Immer und immer wieder las er Thompsons Abschiedsbrief »Football Season is Over« und unterdrückte eine unendliche Melancholie. »Keine Spiele mehr. Keine Bomben mehr. Kein Laufen mehr. Kein Spaß mehr. Kein Schwimmen mehr. 67. Das ist 17 Jahre nach 50. 17 mehr, als ich brauchte oder wollte. Langweilig.« Auf Thompsons Grabstein stand der nihilistische Satz It never got weird enough for me . Anno 2005 hatte er sich mit einer .45er aus dem Leben befördert.
    Was für ein Abgang, dachte Egon-Erwin, der für einen Selbstmord aus Weltekel viel zu feige war.
    Die Suchbegriffe gingen ihm langsam, aber sicher aus. Dann fiel ihm der Scharfschütze ein, der sein Auto zersiebt hatte, und er gab intuitiv »Schützenkönig« in die Suchmaske ein. Die Trefferliste war lang, aber leicht in wichtig und unwichtig zu sortieren. Die ausgedruckten Meldungen mit reinen Ergebnissen wie Anzahl der Ringe oder Gewinner des Vogelschießens sortierte Egon-Erwin gleich aus. Ihn interessierten die Porträts der Schützenkönige und die dazugehörigen Meldungen. In den letzten Jahren hatten eigentlich nur der Bürgermeister und Gunnar den Vogel abgeschossen, während Bauer Strunk und Schlüter das Nachsehen gehabt hatten. Natürlich kam es wie immer in Klein-Büchsen bei den Festivitäten zu Handgreiflichkeiten, sodass Egon-Erwin allmählich ernsthaft am Geisteszustand der Beteiligten zweifelte.
    Nach einer Dreiviertelstunde lag nur noch ein Blatt mit einer zwanzig Zeilen langen Meldung vor ihm. Überschrift: »Spurlos verschwunden!« Kreisjägermeister Baldur Wild hatte sich von einem Tag auf den anderen in Luft aufgelöst. Das war Anfang der achtziger Jahre geschehen. Er hinterließ einen knapp zwanzigjährigen Sohn, dessen Mutter ebenfalls spurlos verschwunden war. In den Sechzigern war Baldur Wild zehnmal hintereinander Schützenkönig von Klein-Büchsen geworden. Mehr war im Archiv nicht über ihn zu erfahren, also musste sich Egon-Erwin auf den Weg in die Katakomben machen.
    »Moinsen!« Paul sortierte in einer Seelenruhe Ausgaben der Landeszeitung aus dem vorletzten Jahrhundert. Der in Ehren vergilbte Stapel roch ungut und wirbelte mächtig Staub auf.
    »Kannst du dich noch an einen Baldur Wild erinnern, den Schützenkönig der siebziger Jahre?«, fragte Egon-Erwin.
    »Aus diesem Prügel-Dorf, das hieß irgendwie Dosen-Dingens?« Paul überlegte.
    »Klein-Büchsen. Wann gehst du eigentlich in Rente? Wirst ja immer vergesslicher, alte Säge«, sagte Egon-Erwin.
    »Wofür hab ich jahrzehntelang meine Kärtchen ausgefüllt? Warte mal einen Moment.« Paul verschwand in einem dunklen Kabuff. Das Archiv wirkte wie die Kulisse in einem Schwarz-Weiß-Film. Es wäre nicht erstaunlich gewesen, wenn ihm gleich Klaus Kinski als irrer Mörder an die Gurgel gegangen wäre. Unter einer dicken Staubschicht lagerte die Geschichte einer ganzen Region und die Arbeit mehrerer Generationen Lokaljournalisten, die pflichtbewusst auf Volksfesten ihre Leber ruiniert hatten. Egon-Erwin fühlte tiefen Respekt und zog per Zufall die Ausgabe vom 21. Juli 1969 aus dem Stapel. In Klein-Büchsen traf sich damals die ganze Gemeinde in der »Heideblume«, weil hier der einzige Fernseher stand. Die Begeisterung war grenzenlos, und der Reporter spekulierte, ob der Astronaut nicht Vorfahren aus Niedersachsen gehabt haben könnte. Egon-Erwin schüttelte den Kopf und stopfte die Ausgabe irgendwo in den Jahrgang von 1950.
    »Komm endlich raus aus deinem Darkroom!«, rief Egon-Erwin.
    Mit der Eleganz eines dreibeinigen Pferdes lief Paul an ihm vorbei. Dann klopfte er auf einen Zeitungsstapel, dass die Staubflusen nur so in der Luft wirbelten, und gab Egon-Erwin einen Zettel mit Daten.
    »Du hast ’ne Viertelstunde, und dann verschwindest du aus meinem Reich.

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