Eroberer
extravaganten Pomp der britischen Tradition folgte und in beispielhafter eremitischer Kargheit lebte.
Der ehrgeizige, nach der Ausweitung seines Herrschaftsgebiets trachtende Ecgfrith startete Angriffe auf die Iren und Pikten; er wurde besiegt und getötet, und Northumbrien war nie wieder so stark wie zuvor. Doch in dem Jahrhundert seit Ecgfrith hatte ganz Europa angefangen, das northumbrische Gelehrtenwesen zu beneiden: Beda, so hieß es, sei in der gesamten bekannten Welt berühmt gewesen.
»Als Ecgfrith also zu Cuthbert kam«, sagte Aelfric mit wachsendem Interesse, »kam tatsächlich ein König zu einem Eremiten – auf einer Insel, die keine Insel ist …«
»Jetzt verstehst du«, sagte Boniface sehr leise. »Genau wie es in der vierten Strophe steht.«
»Und das Datum? Sagt das Menologium das ebenfalls voraus?«
»O ja. Schau dir die erste Strophe an: der ›goldene Mann‹, der ›große König‹. Wie wir wissen, bezieht sich das auf die Ankunft der Sachsen, die von dem britischen Großkönig Vortigern eingeladen worden waren.«
»Die Brüder Hengist und Horsa«, sagte sie gehorsam auf, »und ihre drei Schiffe.«
Er schnaubte. »Zwei legendäre Brüder, wie Romulus und Remus. Zwei Namen, die ›Pferd‹ und ›Wallach‹ bedeuten. Erstaunlich, wie rasch sich Historie in Mythos verwandelt! Aber die Geschichte findet sich in Bedas Werk, selbst wenn er sie leicht abwandelt … Mit Hilfe von Beda und anderen Quellen haben wir diese Revolte auf das Jahr vierhunderteinundfünfzig nach der Geburt unseren Herrn datiert. Wir benutzen die von dem skythischen Gelehrten Dionysius Exiguus erfundene und von Beda popularisierte Zeitrechnung – obwohl sie, wie Beda wusste, Fehler enthält.«
»Anno Domini vierhunderteinundfünfzig«, sagte Aelfric. »Dann ist das also das Datum der ersten Strophe. Und die zweite, die neunhunderteinundfünfzig Monate später folgt …«
»Plus fünfunddreißig, bringt uns ins Jahr des Herrn fünfhundertdreiunddreißig und zum Tod von Artorius, dem Bären, dem letzten großen britischen Führer.« Er grinste, und sein Tumor zog sich auf groteske Weise in Falten. »Es brauchte einen fähigen Komputisten, um das herauszufinden, glaub mir! Die dritte Strophe ist auf Anno Domini sechshundertsieben datiert und scheint sich auf die Entdeckung des Menologiums selbst zu beziehen. Und damit wären wir bei der vierten Strophe.«
Sie erinnerte sich von ihren Studien her an das Datum, an dem der König Cuthbert zu sich gerufen hatte. »Anno Domini sechshundertvierundachtzig.«
»Genau. Aber das Erstaunliche ist, Novize: Das Menologium wurde über zweihundert Jahre vor Cuthberts und Ecgfriths Begegnung niedergeschrieben, und dennoch hat es diese Begegnung im richtigen Jahr vorhergesagt.«
Sie war fasziniert. »Manche behaupten, dass Prophezeiungen, Augurien und Wahrsagerei nicht Gottes, sondern des Teufels sind.«
»Nun ja, aber wir haben hier einen Text, der im Prolog Jesus Christus gewidmet ist; wir sind im Besitz von Gottes Wort. Es ist durch Zufall zu uns gelangt, weißt du – oder durch göttliche Vorsehung. Ein Mann namens Wuffa hat dieses Dokument in einem alten Kastell am römischen Wall entdeckt. Es gab da irgendwelche undurchsichtigen Geschichten mit einem nordischen Rohling und einer britischen Hure, aber letztendlich hat Wuffa die Worte der Prophezeiung
auswendig gelernt und sie an seine Kinder weitergegeben. Er ist nie darüber hinweggekommen, was dort am Wall geschehen ist. Er war überzeugt, dass er sich irgendwie gegen seinen Gott versündigt hatte. Anscheinend starb er als armer, verängstigter Mann. Als dann Wuffas Ururenkel zu uns kam, erkannte ein weitsichtiger Bruder, was er im Kopf hatte, ließ das Menologium niederschreiben, und seither bewahren wir es. Natürlich hat uns dieses verwirrte Enkelkind niemals verlassen. Es war der letzte männliche Nachfahre Wuffas: Hier enden alle Linien, so alt sie auch sein mögen.«
Er beugte sich näher zu ihr. »Verstehst du jetzt, wie wichtig das ist? Verstehst du jetzt, weshalb wir uns so energisch für Isoldes Heiligsprechung einsetzen? Verstehst du jetzt, warum wir mittleren Generationen hart daran arbeiten, diese Prophezeiung über die Zeiten hinwegzuretten, die sie beschreibt? Ich habe dir versprochen, dir unsere wahre Bestimmung zu erklären. Es ist, als steuerten wir eine Arche in diesem Meer barbarischer Dunkelheit, bis das Licht des Reiches wieder hell brennt – und es ist der Weber des Zeitteppichs, der uns im
Weitere Kostenlose Bücher