Eroberer
verlorenen Westprovinzen wieder unter ihre Kontrolle zu bringen. Römische Handelsschiffe, beladen mit Waren, mit denen man die britischen Führer umwerben wollte, waren im Rahmen einer langfristigen Strategie zur Rückgewinnung Britannias auf die Reise geschickt worden. Aber inzwischen war viel Zeit vergangen. Neue Barbarenstaaten sprossen in den Ruinen des alten Westreichs, das zu einer immer ferneren Erinnerung wurde. Und im Osten sah sich das Reich neuen Belastungen ausgesetzt, insbesondere durch einen weiteren Feind: die Sarazenen, die Krieger der neuen Religion des Islam.
»In meiner Jugend war Konstantin der Fünfte Kaiser«, sagte Belisarius. »Welch ein Krieger! Er errang Siege über die Sarazenen wie auch über die Bulgaren. Mein Vater hat unter ihm gedient. Es war ein goldenes Zeitalter. Am Ende folgte ihm ein sechster Konstantin auf den Thron, damals ein zehnjähriger Junge, der nach wie vor eine Marionette in den Händen seiner Mutter, der Regentin, ist. Noch heute versammeln sich Menschen am Grabmal Konstantins – des Fünften, meine ich – und bitten ihn, zurückzukehren und uns zu führen. Doch einen wie ihn wird es nie wieder geben …«
»Aber träumen die Kaiser denn nicht immer noch von Britannien?«, bestürmte ihn Caradwc und packte ihn am Arm.
Belisarius befreite sich sanft aus Caradwcs Griff, verwirrt von dessen anachronistischer Sehnsucht. »Ich fürchte, die meisten von uns wissen nicht einmal, wo Britannien ist, alter Mann.«
Seine Antwort schien Caradwc über alle Maßen zu enttäuschen.
Vielleicht war das eigentlich Bedrückende für diese Briten, die sich nach wie vor als Römer betrachteten, dass Offas Damm einen Grenzwall darstellte, wie die Römer ihn einst gebaut hatten, nur dass er nun sie ausschließen sollte, die neuen Barbaren.
Im Norden änderte sich der Charakter des Landes. Die kalkhaltigen Felder und runden Hügel des Südens wichen einer raueren Landschaft aus Bergen und Tälern, die aussahen, als wären sie von einer ungeheuren, verschwundenen Kraft herausgemeißelt worden, und auf höher gelegenem Moorland sah Belisarius hin und wieder riesige, völlig deplatziert wirkende Felsbrocken. Wie waren sie dorthin gelangt? Vielleicht war dies das Vermächtnis der Sintflut, das Land ein riesiges Wrack, in dem Menschen herumkrabbelten wie Krebse im Rumpf eines gestrandeten Schiffs. Kein Wunder, dass es den kaiserlichen Römern nie gelungen war, diese unwegsame Landschaft zu zähmen.
Sie erreichten die imposante alte römische Befestigungsanlage, die jedermann einfach nur »den Wall« nannte.
Selbst in seinem verfallenen Zustand zog sich der Wall wie eine steinerne Naht über die Landschaft. Caradwc erzählte Belisarius sprunghaft, was die
Briten noch vom Bau des Walls wussten: Er sei von den Römern auf Bitten der Briten errichtet worden, sagte er, und zwar nach dem Zusammenbruch der kaiserlichen Provinz. Das hielt Belisarius für unwahrscheinlich, aber Tatsache war, vierhundert Jahre nach Britannia wusste es niemand mehr. Der Wall war ein erstaunliches Relikt, selbst für einen Mann aus Konstantinopel – aber irgendwie fand Belisarius ihn weniger eindrucksvoll als Offas Damm, vielleicht weil jene primitivere Konstruktion der neuen Zeit entstammte, während diese mächtige Ruine der Vergangenheit angehörte.
Auf dem Weg zur Küste wandten sie sich ostwärts und folgten einer Straße, die an der Südseite des Walls entlangführte. In diesem bergigen nördlichen Land war es unverhältnismäßig kalt und feucht, und nach ein paar Tagen wurde der ohnehin nicht sehr robuste Caradwc erneut krank.
Im Schutz der Steinmauern eines verlassenen Kastells namens Banna mussten sie für einige Tage ein primitives Lager aufschlagen. Während Caradwc schlief, erkundete Belisarius die Ruinen. Sie thronten auf einem Kamm hoch über einem Tal, das von einem sich dahinschlängelnden Fluss in die Erde geschnitten worden war.
Macson gesellte sich zu ihm, und sie unterhielten sich an einem unsteten Feuer. Jetzt, wo ihr Ziel, die Insel Lindisfarena, nur noch ein paar Tage entfernt war, wirkte Macson nervös. Er saß kerzengerade da, mit verkrampften Muskeln, und klopfte mit einem Fuß
rastlos auf den Boden. »Ich entschuldige mich für die Verzögerung«, sagte er.
»Du kannst nichts für die Krankheit deines Vaters. Aber das ist nicht der Grund, weshalb du so nervös bist, stimmt’s? Mir ist durchaus klar, dass du mir bei weitem nicht alles erzählt hast, Macson. Du willst mir nicht
Weitere Kostenlose Bücher