Eros und Asche
natürlichen Verlagerung einer Brille erkannt, verbunden mit einem besseren Sehen der Dinge (statt besser auszusehen). Der alte Herr versenkte sich förmlich in das Eindeutige einer Position, ich weiß nicht mehr, welcher; aber wie bei all den anderen Szenen überraschte einen dort das blank Geschlechtliche anstelle des Gefühls, etwas, das auch die Schwestern erkannten und aufnahmen, so jung sie waren, ja, das wir alle vier in dem feuchtwarmen Grab mit jeder Pore aufgenommen haben, die Arme über den Herzen verschränkt – einem Herzen, das in meinem Fall viel zu tun hatte, obwohl wir nur ruhig vor den Wänden standen. Unser Führer hielt sich zurück, er sagte kaum mehr als das Nötigste, aber ging mit dem Beispiel seiner Versenkung voran. Und als wir wieder ans Tageslicht kamen, nass im Gesicht, waren A. und G., die Schwestern – unvergesslicher Augenblick –, wie verwandelt, nämlich aufgekratzt, weit mehr als M. und ich, die wir eher aufgewühlt waren, man könnte auch sagen: die beiden waren aufgelegter. Das war vor über vier Jahrzehnten.
7
Fahrt in einem holzgetäfelten Wassertaxi mit offenem Heckteil, im Dunst das unglaublich Wirkliche der Lagunenstadt, die große Kopie eines verblassenden Aquarells (und ein seltenes Gefühl von Dankbarkeit: das alles überhaupt sehen zu können durch meine Sonnenbrille). Schließlich die Einfahrt in den Lidostreifen, zum rückwärtigen Hafen des maurisch anmutenden Hotels Excelsior – auf dem Steg schon der Impresario im Tennisdress, die Schuhe rot bestäubt, als kleines Zeichen von Wirklichkeit. U. und ich beziehen das gemeinsame Zimmer mit halbem Meerblick; schnelle Einigung auf die Bettseiten, der Mann näher am Bad für nächtliche Gänge.
Vor der abendlichen Fahrt nach Venedig eine jüdische Gebetsfeier mit dem Rabbi von Maui, Hawaii, wo der Impresario eine zweite oder dritte Heimat hat. Der Rabbi sieht aus wie der Ben Gazzara in The Killing of a Chinese Bookie ; U. und ich beobachten die Feier halb hinter einem Vorhang, zwei Kinder, die ein geheimnisvolles Tun von Erwachsenen ausspähen – da wird gesungen, gebetet, genickt, und die Kundschafter ziehen sich leise zurück. Etwas vorzeitig warten wir dann auf die erneuten Wassertaxis am Steg, wo ein Londoner Freund des Gastgebers, selbst Impresario, nach meiner Tätigkeit fragt. Und auf die Antwort, Schriftsteller, folgt gleich und fast entschuldigend die erwartete Erläuterung: von welcher Art dieses Schreiben sei, also eventuell erfolgreich oder nicht. Der Londoner zieht auf jeden Fall seine Schlüsse und fragt als nächstes, was die Frau des Schriftstellers mache, und anstatt die Frage weiterzugeben, sage ich, sie sei die Mutter seiner Kinder. Etwas Besseres fiel mir auf Englisch nicht ein, und U. gibt sich keine Mühe, ihre Bestürzung zu verbergen. Denn in Wahrheit macht sie alles, was ich nicht mache, nur lässt sich das nicht mit einem Wort zusammenfassen; es stellt ein Leben dar und keinen Beruf (was letztlich auch fürs Schreiben gilt). Vor der Abfahrt in den Taxis folglich ein Ehekrach, nicht laut, aber empfindlich für den Verursacher – ihm fehlt die Übung, als Ehemann aufzutreten.
Und abends Harry’s Bar, der legendäre Ort, heute erstmals betreten – ein Blick durch die Tür hatte immer genügt, wie auch bei anderen legendären Lokalen; und nun also auf einem der Kinderstühle in der hintersten linken Ecke, vom Eingang aus gesehen, und schon erzählt man dem Autor, dies sei Hemingways Stammplatz gewesen (zum Glück ohne eine lebensgroße Skulptur des trinkfesten Schreibers, wie im Floridita in Havanna). Der überaus seriös wirkende Principale und Erbe der famosen Bar begrüßt den stets etwas zu elegant gekleideten Impresario (bei dem alles so sitzt, als stehe der Maßschneider hinter ihm, und tatsächlich ist der bekannte Frankfurter Herrenausstatter S. einer der Gäste). Unsere Gesellschaft hat im unteren Raum jeden der liliputanischen Tische besetzt, und natürlich bekommen alle die berühmten kleinen Schweinereien, die man dort zu sich nimmt, vom Besten in Hülle und Fülle. Keine Frage, es geht einem gut, der für Schriftsteller kritischste Zustand. Und stärker denn je seit dem Tag, als ich von M.s Tod erfuhr, Ende vorigen Sommers, ist da der Wunsch oder Gedanke, dass er noch lebe und die Geschichte meines Barabends hören könne, ein Wunsch auch aus dem Wissen, dass er in diesem Raum mindestens einmal gestanden hatte, am Tresen vor einem Espresso, die Hand mit der Zigarette halb vor
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