Eros und Asche
Haar auf, und das Erbitterte ergab sich, von einer Zigarette zur nächsten, aus der Frage, ob man sich vom ersten Moment an offen gegen die Gesellschaft stellen sollte oder ob es nicht klüger wäre, sie zu unterlaufen, um im geeigneten Moment, von guter Position aus, zuzuschlagen. Unsere Stunde null sollte der erste Oktober sein, für ihn Beginn des Jurastudiums in Frankfurt (der ein Beginn mit meiner Schwester war), angeblich sein Vormarsch in die Herrschaftssprache, für mich der erste Tag bei der Bundeswehr, um dort als Ausbilder den Feind zu studieren, aber auch um später selbst in der Lage zu sein, notfalls bewaffnete Kämpfer auszubilden, Absichten, die keiner dem anderen glaubte. Und kaum hatte ich M. vorgehalten, er würde nur Jura studieren, um eine Sicherheit zu haben, falls Medizin nicht klappte, kam er damit, dass ich aus Neigung zum Militär ginge und nach dieser Zeit verloren sei, ja, ob ich mir überhaupt vorstellen könne, mein ganzes Leben gesellschaftlichen Veränderungen unterzuordnen? Als Arzt hätte er eine klare Aufgabe in diesem Kampf, ich aber wäre nach zwei Jahren Militärdrill verblödet und könnte keinen Anschluss mehr finden und würde die Seiten wechseln. Er skizzierte mir eine Zukunft aufseiten der Schweine, und ich hielt ihm seine Bequemlichkeit – Auto, Zimmer und Liebe in Frankfurt – vor. Und so schien es ein Streit über die Treue zu sich selbst zu sein, zu den Zielen, die man für sich ausgegeben hatte, um die Welt zu verändern und innerhalb der veränderten Welt etwas Sinnvolles zu tun, doch in Wahrheit kam die Erbitterung aus dem Gefühl, dass die gegenseitige Treue, der Bund der letzten Jahre, mit dem Leben, in das jeder auf seine Art eintrat, verraten würde oder schon verraten war. Nass im Gesicht saßen wir uns gegenüber, jeder schaute am anderen vorbei, und am Ende des Abends hat uns die Brandung erlöst, ihr Lärm an den Felsen war größer als der in uns selbst; wir teilten die Rechnung, die nicht gering war, und verzichteten auf ein Taxi, das uns zum Hotel auf einer Anhöhe hinter der Stadt gefahren hätte. Ja, irgendetwas brachte uns sogar dazu, diese Anhöhe auf dem kürzesten Weg, abseits der Straße, zu nehmen, durch die Schwüle einer Bananenpflanzung, im Rücken das Krachen der Wellen, über uns ein Blätterwald und vor uns nur noch für wenige Nächte unser Doppelzimmer mit Blick; danach ein ganzes, allen Worten und Absichten gegenüber gleichgültiges Leben.
9
Die bekannte Schauspielerin B. wird fünfundsechzig – morgens im Radio eine Widmung mit O-Ton. Sie hat gerade ihre Biografie veröffentlicht, was sonst; ein paar Sätze fallen, und der Zuhörer hat den Eindruck eines geklärten Lebens (davon abgesehen eine schöne, aufmerksame Frau, die am Set gleich bemerkt hat, dass der Autor ihretwegen nicht aus der Flasche trank). Und in ihren Anfängen, als das Kino noch etwas galt und Stars von Rang hervorgebracht hatte, glich diese Schauspielerin in ihrem Strahlen der ersten Jugendliebe von M., die noch vor den beiden Apothekertöchtern in sein wie auch in mein Schülerleben getreten war.
Tagsüber Arbeit an der Novelle, gegen Abend ein Gang über die nahe alte Mainbrücke (Eiserner Steg). Der Blick auf den Fluss – der etwas breiter sein dürfte, so breit wie bei Hochwasser – gibt einem, wenn man nur lang genug hinschaut, das Gefühl, wirklich im Freien zu sein. Da sind die Möwen, die mit der Strömung treiben oder kreischend umherfliegen, und heute sitzt auch wieder einer am Ufer, der mit bleibeschwerter Grundangel im Trüben fischt und darauf wartet, dass ein Glöckchen an der Rute läutet (und mir das Bild zurückgibt, wie ich am Gaienhofener Landungssteg oft einem Angler zugesehen habe, der seinen Sonntag herumbrachte, irgendwie alleingelassen wie ich, weil der Freund auf einmal ganz neuen Dingen nachging, eine Veränderung fast über Nacht, vom anderen so bestaunt wie beargwöhnt).
M.s erste Jugendliebe war die hochbegabte spätere Journalistin S. H., die sich ihr Strahlen bewahrt hat wie die einstige Film- und heutige Fernsehschauspielerin, deren Biografie so termingerecht erschienen ist. Anfang der Neunziger tauchte S. plötzlich bei einer Lesung im Publikum auf, offenbar im letzten Moment in den Saal gehuscht; und nachdem ich sie erkannt hatte an ihrem Strahlen – das erste Wiedersehen seit der Schulzeit –, kam ich kaum noch über die Runden. Neben dem Vorgelesenen klang noch etwas Ungelesenes mit, das mir wie kaum etwas anderes das
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