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Eros und Asche

Eros und Asche

Titel: Eros und Asche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bodo Kirchhoff
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schieben – holt unter einer der verhüllten Platten ein Schnittchen mit Lachs hervor. Keiner hat den Mundraub bemerkt, aber im schwächeren Auge lösen sich Glaskörperchen und schweben als kleine dunkle Monde durch den Marmorraum – je älter man wird, desto mehr überführt einen der eigene Körper, längst kein Komplize mehr. Und endlich der Rundgang der Präsidenten im deutschen Saal, eingekeilt von Prätorianern mit Knopf im Ohr und den Leibfotografen, die inzwischen Kameraleute heißen. Eine Hydra, die sich, angeführt von Protokollbeamten, denen die lehrerinnenhaften Simultanübersetzerinnen folgen und wohl noch der eine oder andere Notarzt in Zivil, zwischen den Kojen hindurchschlängelt, mit geheimnisvollen Pausen da und dort, kurzen Aufenthalten, bei denen sich die Köpfe der Hydra um ihr Herz oder die zwei präsidialen Herzen zusammenziehen, bis sich der Pulk wieder auflöst und die Hydra weiterstrebt, genau auf den Statisten zu. Und so kam es zum Händedruck mit beiden Präsidenten, und der deutsche Autor erwähnte gegenüber dem seinen, was er in den letzten Tagen in Warschau getan hat, nämlich mit jungen Polinnen und Polen in deutscher Sprache eine Geschichte über einen Kuss zu entwickeln, nichts also, was mit dem deutsch-polnischen Verhältnis auch nur entfernt in Verbindung zu bringen wäre, doch der Präsident begriff sofort den schlichten Sinn des Projekts und bat den schon weiterziehenden Kollegen, der Sache ein Ohr zu schenken. Seine Simultanübersetzerin tat, was in ihrer Macht stand, und der kleine rundliche Herr schmunzelte, so muss man es sagen, doch ehe es bei einem Schmunzeln blieb, kam dem Autor das Glück zu Hilfe – Anna und Olga tauchten auf, und Olgas wunderbare Zeile vom grauen Korridor des Lebens, der sich nur durch Liebe rötet, wurde ins Polnische übertragen, ebenso die Episode von der umgefahrenen Zapfsäule und dem Bindemittel-Kuss. Und der kleine Herr murmelte etwas, das nicht übersetzt wurde, für Sekunden verwirrt, wie mir schien, aber eine leichte Betörung war wohl auch im Spiel. Jedenfalls reichte er den jungen Landsleuten, die in deutscher Sprache über polnische Küsse schrieben, die Hand, fast eine galante Geste, und schließlich wollte er auch dem Schreibhelfer die Hand reichen, von Mann zu Mann, drückte jedoch die des anderen, offenbar allzeit händedruckbereiten Präsidenten, der das Versehen zum Anlass nahm, über das Einfache und zugleich Elementare des Themas zu reden. Er wünsche sich, in dieser Sache auf dem Laufenden gehalten zu werden, sagte er abschließend, als wolle der Schreibhelfer vom Küsse-Erzählen künftig zu mehr übergehen, und beim Äußern dieses Wunsches weiteten sich seine Augen zu einer Wertschätzung durch den Blick, bei Politikern keine Seltenheit: ein Aufblitzen wie mit Zusatzpupillen, um ihr Gegenüber für einen Moment mit Glanz zu beschenken und für alle weiteren Momente auf Abstand zu halten – Ich sehe dich, sagt dieser Blick, aber auch: Ich sehe dich überhaupt. Und der Angesehene versprach, sein Bestes zu tun, während die polnische Präsidentenhand nun doch noch die richtige zu fassen bekam, unter den argwöhnischen Mienen der Prätorianer und den schönen Augen von Anna (die mir danach sogar ihre Mobilnummer verriet, als könne die Party mit ihr und Olga am Ende doch noch stattfinden).
    Bei unserem vorletzten Gespräch Auge in Auge, ein Nachmittag im alten Einstein, hatte ich M. – für den Zeit nun schon alles statt nichts war – auf die Geschichte mit den beiden Frauen in der Hochhauswohnung angesprochen, und er war ausgewichen, indem er ein Stück Torte bestellte und von seiner ungebrochenen Lust an Süßem sprach – und mir verschwieg, dass er schlicht nicht das Geld hatte, sich nach Belieben Kuchen zu kaufen oder gar ins Einstein zu gehen, weil er seit der Zeit, als die Zeit für ihn alles wurde, von dreißig Euro in der Woche lebte und die Gefährtin für den Rest aufkam. M. hatte seinen letzten Job als Unfallarzt geschmissen, die Beine trugen ihn nicht mehr genug, um anderen zu Hilfe zu eilen, und auch der Weg von seinem kleinen verwahrlosten japanischen Auto voller Kippen, Kassetten und alter Zeitungen, mit dem er mich am Bahnhof Zoo wie schon des Öfteren abgeholt hatte, um dann in einiger Entfernung zum Einstein zu parken, fiel ihm in einer Weise schwer, die den Gesunden mehrmals in die Versuchung führte, dem Geschwächten unter die Arme zu greifen – eine Geste, deren Ansatz er gespürt haben muss, daher

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