Eros und Asche
gibt mir A.s Nummer, ich könne sie jederzeit anrufen, ihr Mann wisse Bescheid, er kenne all die Geschichten. Und ob ich auch all die Geschichten erzählen würde? Nur die wichtigsten, sage ich. Aber es wird keine Namen geben, höchstens Ortsangaben, Rom, Via Fratelli Bandiera. Und ich erinnere sie an das eine und andere aus diesen Frühlingstagen, das mir als wahr erscheint, gerade weil es so lange her ist, jedesmal voller Sorge, sie würde es nicht bestätigen. Doch sie bestätigt es, und ihre Stimme verliert dabei den dunkleren Hauch.
Und ein weiterer Moment von Verbundenheit oder Liebe – so lange her, dass er wahr ist, aber gestützt nur auf das eigene Erinnern – hatte sich im Turm des kleinen römischen Klosters auf dem Gianicolo abgespielt. Die beiden Schwestern waren in ihrem Kellerraum, wie von den Nonnen vorgesehen, und die Freunde berieten im Turmzimmer, wie sich die Spuren ihrer jungen erfüllten Wünsche beseitigen ließen. Zusammen wuschen sie dann die Bettlaken in einem winzigen Waschbecken mit einem Stück Klosterseife, aus dem sich nur Blasen lösten und keinerlei Schaum. Ein aussichtsloses Tun, und je klarer das wurde, desto mehr griffen unsere Hände ineinander in einem eisigen Wasser (der Hahn aqua calda fehlte im Haus) mit nur schwach rötlichem Ton, während die Laken ihre dunklen Male behielten, bis wir es aufgaben, uns auf diesem häuslichen Weg aus der Affäre zu ziehen. Stattdessen rieben wir uns gegenseitig die Hände warm (wie Jahre später auf dem Gipfel des Teide) und fassten, Stirn an Stirn, den Entschluss, die Laken unter unsere Mäntel zu stopfen und eine Wäscherei aufzusuchen.
Die Schülerin mit dem angenehmen Tonfall und der professionellen Art hat die Zusammenfassung des Interviews gemailt und bittet noch um ein Zitat über Gaienhofen. Zum Glück gibt es schon eins (aus Infanta ), und der Ehemalige tippt es ab und ändert es leicht, hin zur Gegenwart, die er empfindet, wenn er zurückdenkt. »Wer ihn nach der Schulzeit fragt, bekommt keine Antwort; über das letzte Stück Heimat in sich kann er nur schweigen. Schweigen über die Schilffelder zwischen Gaienhofen und Horn an ersten warmen Tagen, Schweigen über die Junistille, wenn der See zu schweben scheint, über Sonntagnachmittage im schwankenden Holzboot, das Tasten und Streicheln und in Augen und Nabel Schauen. Schweigen auch über die aus weißem Dunst aufsteigenden Oktobertage, wenn herabgefallenes Obst in der Herbstsonne schmort, das Jahr sich im Fäulnisduft neigt und der See stetig schrumpft. Und Schweigen über das Uferlose der Winterebbe und einen stelzigen Landungssteg, nur an der Spitze im Flachwasser, einzige Zuflucht für Dauerküsser und Kettenraucher, für ihn und den Freund.«
Die Stimme der etwas jüngeren, zarteren Schwester klingt eine Spur älter als die von G., der frischgebackenen Großmutter. Der Anrufer erkennt die Stimme wieder, aber es gibt darin ein Nebengeräusch, eine Art Knistern, wie auf einer alten Schallplatte, trotz sorgsamen Umgangs. A. hat mit mir gerechnet, die Schwestern haben telefoniert. Mit dem Geräusch in der Stimme, aber ohne jedes Zögern kommen ihre Antworten auf meine Fragen. Sie hat das Kind von M., ein Mädchen, im achten Monat verloren, weil die Nabelschnur es erdrosselt hatte; drei Tage lang war das tote Kind in ihr, noch während einer Bergwanderung, die wir zu dritt unternommen hatten, die Schwestern und ich. Nach zwei weiteren Fehlgeburten ist sie heute Mutter von drei Kindern, alle erwachsen. Und die Zeit mit M., das ist wie gestern, seinen Tod konnte sie erst am offenen Sarg fassen. Tage danach war sie in ihrem Ferienhaus (in den genannten Schilffeldern, eins der wenigen Häuser, die dort schon vor Naturschutzzeiten erbaut worden sind). Und ihre Tränen beim Schwimmen hätten den Wasserspiegel des Bodensees angehoben, sagt sie und lacht über die eigenen Worte (Übertreibung nur beim Lesen, nicht beim Hören). Sie hatte M. dreißig Jahre lang nicht gesehen – aber er war’s noch in dem Sarg, für eine Stunde, bis alles ins Feuer ging. Und beim Schwimmen kam die ganze Soße wieder hoch, sagt sie; bitterlich lachend dieser Satz und Soße mit weichem S, halb Mundart, halb Gedanke. Ein Jahr vor seinem Tod hatte M. sie angerufen, sein Versuch, sich für die Soße zu entschuldigen und von seiner Krankheit zu erzählen, ein Versuch von zwei Stunden. Und auf einmal die Erwähnung von Tabletten, die er habe, um alles abzukürzen, Tabletten, die er ihr besorgen könne, falls
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