Eros und Asche
Irgendwie beschämt es den Erwachsenen, dass so etwas überhaupt passieren kann, als hätten Eltern nicht nur für die Ausstattung ihrer Kinder zu sorgen, vom iPod bis zum Flachbildschirm, sondern wären auch dafür verantwortlich, dass all die blutigen Dinge auf dem Schirm diesen Rahmen ja nie verlassen.
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Verhangenes Sommerwetter, vormittags der Paketdienst, die Bücher aus Berlin; ihr Gewicht macht zum Glück auch physisch zu schaffen – unter den Küchentisch geschoben, bleibt die Sendung vorerst ungeöffnet. Gegen Abend eine Verabredung mit der Tochter bei Douglas, überraschend für den Vater: Die Tochter ist schon wieder mehr ins Leben verwickelt als in die Tragödie eines tödlichen Unfalls. Wie ein kleines Raubtier, das, von trügerischen Gerüchen verwirrt, die Beute zwar wittert, aber nicht anpeilen kann, streift sie durch das Parfümeriereich. Soll sie nun eine Kette kaufen oder doch lieber Ohrringe oder etwas ganz anderes, eine Creme, eine Tönung? Väterlicher Rat ist nicht gefragt, dazu trägt der Vater ein zu gestriges Hemd; außerdem sagt er Clip statt Ohrring (das Obszöne des Unzeitgemäßen inmitten der Mischung aus dem Kostspieligbilligen, das der Laden bietet, und dem Billigfemininen, mit dem es angeboten wird).
Erst nachts das Auspacken der Bücher, der Vergessenen und der Verfemten, die M. in verschiedensten Ausgaben zusammengetragen hatte, aber auch der großen alten Männer und bedeutenden Schwermütigen. Immer wieder Jünger, Borges und Benn, immer wieder Kleist, Hölderlin, Nietzsche. Und unter den Alten und Schwermütigen auch verstreut ein paar Frauen, die Bücher alle so, als hätte er sie besonders geschont oder neu gekauft – Zwetajewa, Achmatowa, Virginia Woolf, Droste-Hülshoff. In der Dichtung hatte er sich allerdings mehr an die Männer gehalten, an Vergil, an Chamisso, an Novalis, Klabund oder Rilke. Und dazwischen wieder ein Magazin, diesmal mehr als schwarzweiß – junge lachende Frauen, heftig in ihren Blicken, wie H., als M. sie aufgelesen hatte, und neben einer, zweifellos der schönsten, der Vermerk: Ja, ja, ja, zu allem Ja, wie Nietzsches Esel! M. hatte sich immer bewusst in die Liebe verrannt, als intelligenter menschlicher Esel, der das Fleischliche sorgfältig vom Liebesalltag abgelöst hat, als göttliche Angelegenheit; in dem alten Vergil-Band, Aeneis , fand sich beim Blättern eine Bleistiftunterstreichung, Buch IX, Vers 184: »Sind es die Götter, die in meine Seele die Glut wehen, welche ich fühle, oder wird wohl ein heftiges Verlangen für jeden von uns zum Gott?« Und in Jüngers Tagebüchern sind zwei Stellen vom Juni achtundsechzig unterstrichen, die auch auf ein bewusstes Verrennen hinweisen. »In unserer Zeit scheint eine Neigung für das Widrige zu wachsen – hierher gehören gewisse Exzesse der Dokumentation, vor allem durch Lichtbilder.« Und einen Tag später notiert Jünger: »Einmal werden wir alles zurücklassen, mehr als die Lichter und Stimmen der sinnlichen Welt. Der Gang bleibt keinem erspart. Man kann füreinander, doch nicht miteinander sterben, das sind Kleistsche Fiktionen . . .« Und doch häufen sich bei Kleist M.s Ausrufezeichen neben den todessüchtigen Zeilen, und auf einem eingelegten Papier findet sich eine Leseliste zu Kleist und Henriette Vogel, die sich kaum kannten und doch zusammen in den Tod gingen. Am Ende bedecken die durchblätterten Bücher den Tisch, und der neue Besitzer der nicht neuen Werke – über die wir schon, wie über Jüngers Afrikanische Spiele , in Internatszimmer, jeder auf seinem Bett, gestritten hatten: ob das wohl überholtes Zeug sei – weiß nicht, wohin damit; es wird wohl auch auf ein neues Regal hinauslaufen, auf eine Veränderung der Wohnung.
Und zu Jünger das unvermeidliche, klärende Wort (das M. verweigert hätte). Es war dessen nüchterner, in den Augen vieler, die ihn nur angelesen haben, grausamer Blick auf die Dinge unseres Verhaltens und der Natur und des Zusammenspiels von beidem, der M. so angezogen hatte, die besondere Form von Empathie, eines Mitleids ohne jeglichen Gefühlsschmuck, Jüngers reine Passion. In den Tagebüchern ( Siebzig verweht I und II ) finden sich unzählige entsprechende Unterstreichungen, viele mit dem Vermerk Zitat!, als hätte M. eine groß angelegte Jünger-Biografie geplant oder sich als jemanden vorgestellt, der sich mit einer solche Aufgabe trägt. Eine kaum versteckte Sehnsucht spricht für den schreibenden Freund aus all diesen Vermerken, die
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