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Eros und Asche

Eros und Asche

Titel: Eros und Asche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bodo Kirchhoff
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Sehnsucht, selbst zu schreiben und das eigene Erleben dadurch auf die Füße zu stellen oder überhaupt auf die Füße zu kommen. Und schließlich eine so dick unterstrichene Eintragung, dass sich sein ganzes Schweigen oder Nichtschreiben daraus erklärt. Am fünfzehnten Mai achtundsechzig (in den Tagen unseres Abiturs) hatte Jünger etwas notiert, das für M. zum Credo wurde: »Das Beste behält man für sich.«
    Auch sein herbeigerauchtes, angestrebtes Aus-dem-Leben-Gehen wollte er – als negatives Bestes – für sich behalten, und doch gab es Ankündigungen aus einer Art Weltverachtung, die ihn mit einschloss. Wenige Wochen vor seinem Tod hatte M. der Gefährtin ausgemalt, wie er sich zuerst irgendwo den Schädel aufschlagen werde, um dann, sonstwie benommen, das letzte Stück zu gehen, bis er irgendwann umkippen würde, dort, wo Notärzte nichts taugten. Und nachdem er, scheinbar versehentlich, mit der Stirn gegen einen niedrig hängenden Ast gerannt war, hätte ein wächterhafter und letztlich nicht liebender Beobachter das von da an geradezu systematische Rauchen und Kaffeetrinken bemerken können und vielleicht auch die Einnahme von irgendetwas, den Tabletten, die er sich schon ein Jahr zuvor verschafft haben wollte. Er hatte sich aufgegeben und konnte auch nicht mehr in den Sätzen anderer tröstlich das eigene Denken wiedererkennen, höchstens noch wie Kleist das eigene Untröstlichsein. Und danach? Letztlich war niemand dabei, nicht einmal die Gefährtin an seiner Seite. M. hatte sich über die Folgen des Weiterrauchens nach dem Lungenemphysem genau informiert, das entsprach seiner Art, und bei allen Nachteilen überwog der winzige Vorteil eines am Ende vom Sterben entlasteten Todes. Ihm war klar, was auf ihn zukam, er kannte den Verlauf, aber nicht die Daten. Er war vorbereitet, und er verstand sich als einen, der hart im Nehmen war, nur drohte wohl auch dieses innere Gewappnetsein mit der Selbstaufgabe am Ende etwas verloren zu gehen. Aber wie verhielt sich einer, der nicht so hart im Nehmen war? Sollte er jammern, erstmals im Leben, sollte er trinken oder im Bett bleiben? Nichts davon. Er schloss sich ins Bad ein, hörte seinen letzten Sänger und rauchte.
    Im Grunde eine alte Übung, nur dass der Sänger dabei kein letzter war, eher ein erster in einer neuen, erstmaligen Lage – nachdem die Schwangere der Schwestern das Internat verlassen hatte und unweit der elterlichen Apotheke das Kind in ihrem Bauch heranwuchs, verbrachte M. ganze Nachmittagsstunden auf einem der verwaisten Schulklos, rauchte und hörte Musik, von einem inzwischen noch kleineren und besseren Tonband. Er hörte Yves Montand, dessen weiche Stimme zum zerfurchten Gesicht seine eigene Janusköpfigkeit wiedergab, und er hörte Eartha Kitt mit ihrem kindlich-hexenhaften Nachtclubton. Eine Weile hatte ich nichts von diesen Sitzungen gewusst, bis eine Andeutung kam, wo er manchmal die Nachmittage verbringe, und so besuchte ich ihn, und wir rauchten zusammen, aber jeder auf seinem Klo, während die Musik lief. Erst beim zweiten oder dritten dieser Besuche erzählte M., was mit ihm los war. Er hatte mir in Latein geholfen, und auf einmal kam er auf A., und ich erfuhr von seiner Panik wegen des Kindes, das von Tag zu Tag in ihr menschenähnlicher wurde. Die beiden telefonierten nur einmal in der Woche, so war es mit den Eltern vereinbart, und nach jedem dieser Gespräche war sein Vaterwerden nähergerückt. M. sah mit dem Kind sein Leben einstürzen, noch ehe es begonnen hatte. Eine Abtreibung kam nicht in Frage, weder für die künftigen Großeltern noch für die Schwangere selbst, während M. und ich natürlich sofort an diese Lösung gedacht hatten, sogar eine Züricher Adresse war schon ermittelt, nur fehlten uns zweitausend Franken. Und so wuchs das Kind im Bauch, und M. sah sein Vaterschicksal besiegelt; also schloss er sich ein, rauchte und hörte Musik, eine Phase von etwa drei Monaten, die damit endete, dass wir uns gegenseitig rasiert und gegenseitig die Haare geschnitten haben, wie zum Beweis einer Intimität, aus der kein neues Leben hervorgeht, sondern höchstens eine neue Frisur (und beim privaten Haareschneiden ist es meinerseits auch geblieben, längst von eigener Hand, gegen den Zinnober der Frisöre).
    Heute Deutschland–Argentinien, die Stadt in Unruhe wie vor einer Sonnenfinsternis. Nur in Antiquitätenläden, durchstreift auf der Suche nach einem Regal, die übliche Stille. Und schließlich findet sich auch etwas

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