Eros und Asche
Passendes, drei Fächer, eine Lade, kleine Beine mit Füßen, diskreter Jugendstil, leider nicht passend im Preis. Wie viel will ich ausgeben, damit M.s Bücher das Regal bekommen, das sie verdienen? Das Problem wird vertagt, könnte aber schnell einer Lösung näher kommen – der Autor hat eine Verabredung mit dem Verlegerfreund in dessen Büro. Man schließt dort einen Vertrag ab, nicht den ersten; die beiden kennen sich schon lange, sie teilen die Schwäche für das Schwierige und die Schwäche für das Schlichte. Hat der Verlegerfreund M. abgelöst? Nein. Er und ich haben ausschließlich eine Geschichte unter Erwachsenen; sein Schicksal mit dem Verlag des Vaters ist zum Teil auch meins. Der Verleger fragt nach der Arbeit des Freundes, nach dem Eheroman, den sein Autor seit Jahren im Kopf hat (wie einen Traum, an den man sich in immer neuen Bruchstücken erinnert), und auf einmal rede ich über M. und das Nachdenken über ihn, über unsere Zeit, damals und später, und der Zuhörer, etwas verwirrt von den Sprüngen, bittet um eine Übersicht.
Lebenslauf, soweit bekannt. M.P., geboren am 1.10.1947 in Heiligenstadt, Thüringen; Einzelkind. Frühe Flucht der Eltern in den Westen, Karlsruhe, Gründung des väterlichen Ingenieurbüros (später florierend). Nach vier Jahren Gymnasium, altsprachlich, Wechsel auf die evangelische Internatsschule Gaienhofen, Bodensee; Abitur 1968. Befreiung von Wehr- und Ersatzdienst, Studienbeginn in Frankfurt/Main, Jura, später Tübingen; Berufsziel Neurologe. Zulassung zum Medizinstudium in Freiburg, dort bis zum Staatsexamen. Anschließend Berlin/West, Tätigkeit als Assistenzarzt in der Neurochirurgie, erste Anstellung am Klinikum Steglitz; ab 1983 auf der Position eines Oberarztes, verantwortlich für die Ambulanz. Nach Ende des Vertrags das Ausscheiden aus dem Beruf, 1989. Von da an ohne feste Stellung; unregelmäßige Arbeit in Antiquariaten, Kurse in Neurologie, Tätigkeit als Notarzt, angeblich auch Verkäufe von Fotos. Seit Tod des Vaters (1998?) finanziell auf sich gestellt; Beginn der Verarmung, zunehmende Selbstisolation und Ausbruch einer ungeklärten Krankheit (Polyneuropathie). Ab 2003 Atembeschwerden, eingeschränkte Bewegungsfreiheit; letzte Zuflucht ein kleiner See nördlich von Berlin, dort gestorben am 20. 8. 2005 an Herzversagen. Werke: Hunderte von Briefen an Frauen (nachweislich), mehrere Tagebücher (verschollen); Zehntausende von Fotos (Frauenkörper, Seenlandschaften, antike Szenarien, sizilianische Kargheit, Berliner Verfall, Lissaboner Verfall, die Ästhetik des Rauchens, Schaufensterwelten, alte Plakatwände, Detaildramen jeder Art); Schaffung einer Musiksammmlung und einer Bibliothek der Traurigkeit, Schaffung einer Bernsteinzimmerwohnung und mehrerer Collagen.
Und im Übrigen wäre es keine große Sache, an einige der Briefe heranzukommen, aber was könnten diese schriftlichen Ansprachen an Frauen (deren Geschichte mit M. ja im Dunkeln bliebe) noch aufhellen? Wie der Briefeschreiber gedacht hat? Das ist bekannt. Und M.s Schreibstil entsprach der jeweiligen Adressatin, mal schwärmerisch, mal verführerisch, mal dogmatisch und manchmal von jedem etwas – der Chronist hat weder die Gefährtin (H.), noch die jüngere der Schwestern, noch die eigene Schwester nach dem Inhalt von M.s Briefen gefragt, aber alles, was dennoch herauskam, aus einer Art Überdruck, den die Briefe hinterlassen haben, ergibt ein Bild durchdachter Appelle, immer eher das Leben der Angesprochenen oder das Leben überhaupt im Blick als sich selbst oder gar die berüchtigte Beziehung. Es waren klassische Briefe, wie sie heute wohl kaum noch geschrieben werden, stets ein Thema umkreisend und nur in dieser Denkverführung Liebesbriefe, ohne jede mündliche Haltung (fern aller E-Mails oder gar des Chattens); Briefe, die man entwirft, um sie noch einmal zu schreiben, ehe der Entwurf in Flammen aufgeht, und Briefe, in denen Lieben und Lügen unter Umständen ein und dasselbe waren: M.s persönliche Wahrheit, die er immer wieder einfließen ließ. Und der, der nie einen der Briefe bekommen hat (auf all seine Briefe hin), tröstet sich mit den Mitteilungen, die an anderer Stelle aufgetaucht sind, in Form von Strichen und Ausrufezeichen.
Unter den Büchern aus Berlin fand sich auch eins, das schon vor vielen Jahren in Frankfurt war, eine psychoanalytisch umraunte Doktorarbeit, darin die guten Wünsche des Verfassers und gezielte Unterstreichungen von Empfängerseite. M.s Neugier galt dem
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