Eros
Glück in einer schweren Zeit. Das wird Birgit zwar nicht
in Worten äußern, eigentlich gar nicht, aber doch deutlich genug, daß Sofie es
mitbekommen und sich prompt dafür entschuldigen wird, nach Feierabend schlechte
Stimmung zu verbreiten. »Nimmst du mich abends mal mit?«
»In den Zirkel?«
»Paß ich da nicht hin?«
»Doch. Klar. Wenn du gern möchtest.«
»Birgit?«
»Was denn? Ich nehm dich mit, wenn du willst, frag mich jetzt bloß
nicht nochmal, ob du dort hinpaßt.«
Die Kellnerin wird zwei neue Kännchen Tee servieren, mit jeweils
einem Schuß Stroh-Rum darin. Sofie wird, vom hochprozentigen Alkohol ermutigt,
alles genau so formulieren, wie sie es sich am Nachmittag zurechtgedacht und in
Sätze portioniert hat.
»Ich muß aus meinem Leben was machen! Ich will mir nicht dauernd
sagen müssen, hast ja Glück gehabt, daß Birgit da war, und ihre lieben Eltern,
sei froh, hätte schlimmer kommen können. Nö … Das ist keine Haltung – auf
Dauer. Bin ich undankbar? Ich bin gesund, okay, und ich will allein damit noch
nicht zufrieden sein. Findest du das undankbar?« Und Sofie wird alles noch
einmal hervorsprudeln und aufs Tapet bringen. Das Kapitel mit dem Amileutnant,
der in sie verliebt gewesen war und sie bestimmt geheiratet hätte. Der – und
das muß jedesmal dazugesagt werden, weil es dadurch ja nicht weniger
unglaublich wird – mit dem Sex bis zur Ehe warten wollte und sie unterhalb des
Nabels nie angerührt, nur oberhalb geküßt hat.
»Stell dir mal vor! Dann wär ich jetzt in den Staaten, wäre
Amerikanerin. Ob ich dort studieren kann, hab ich ihn gefragt. Er hat ja
gesagt, klar, du lernst Englisch, dann studierst du. Was du willst. – Und was
ist mit Kindern? Später – hat er gesagt, hat ja Zeit. Mein Gott, ich bin das
mit ihm durchgegangen, Punkt für Punkt, wie einen Vertragsentwurf!«
»Schätzchen, wir haben den Krieg verloren, weißte noch?«
»Ach? Ich hab den Krieg nicht verloren. Ich war nur zufällig dabei. Als du mir eben das
Bild von Alexander gezeigt hast – da kam alles nochmal hoch. Alles!«
Noch bevor die beiden beschließen, tanzen zu gehen, wird Sofie
Kramer ihre Stiefschwester darum bitten, künftig nichts mehr zu erwähnen, was
sie von Alexander von Brücken in egal welchen Zeitungen liest. Damit nicht alles wieder hochkommt. Birgit wird es ihr sogar versprechen müssen.
Quartiersuche
Ich lebte damals in einer Zweizimmersuite im erst vor
kurzem wiederhergestellten Bayerischen Hof, was ich als Geldverschwendung
empfand, aber es sei, sagte man mir, zu meiner Sicherheit nötig. Es hätte
sicherlich andere, preisgünstigere Möglichkeiten gegeben, wenngleich das Hotel
damals nicht halb so schick und mondän war wie vor dem Krieg. In der Saison
49/50 wurden manche Zimmer noch unter bis zu drei Gästen aufgeteilt. Das Hotel
war von Bomben schwer getroffen worden, aber einen, und ausgerechnet den
prächtigsten, Saal hatte man unter dem Schutt fast unversehrt gefunden und
drumherum ein neues Hotel gebaut. Der Bayerische Hof stieg somit in den Rang
einer Metapher auf, eines Symbols des Wiederaufbaus. Und ich war, ohne mir
dessen bewußt zu sein, Teil dieser Metapher. Sommer 49 wurde in jenem Saal das
erste Restaurant Münchens wiedereröffnet, in die Stadt kehrte zaghaft das Leben
zurück. Mir war es egal, ein Symbol zu sein, ich kam mir schlicht einsam vor.
Keferloher hätte mich in sein Allacher Haus holen können, zum Beispiel, aber
daran schien er keinen Gedanken zu verschwenden. Sie müssen sich vorstellen,
ich war eine Art Kaspar Hauser, dem fast fünf Jahre seiner Entwicklung fehlten.
Und wenn die Erinnerungen auch zurückkehrten, täglich in neuen Hundertschaften,
blieb ich doch ein halbwüchsiger Junge in einem sonderbaren Wachtraum, mit
vielem überfordert. Keferloher begriff das und hielt mich wohl für in seinem
Sinne formbar. Womit er allerdings nicht rechnen konnte, war meine Energie.
Mein Ehrgeiz. Man muß vielleicht Jahre im Dämmerschlaf verbracht haben, um eine
solche Energie zu entwickeln.
Auf meine Veranlassung hin wurde der schmale Sekretär der Suite
gegen einen breiten Schreibtisch ausgetauscht, darauf lagen bald Bilanzen,
Akten, Materialbeschaffungslisten, Rechnungsbücher, Kontoauszüge. Keferloher
lieferte alles, was ich haben wollte, wahrscheinlich in der Annahme, ich könne
mit diesen Konvoluten der Macht nicht umgehen. Und tatsächlich: die Buchführung
unsrer Firma zu studieren, kam dem Versuch gleich, sumerische Keilschrift vom
Blatt
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