Eros
Eltern.
Wir könnten glücklich sein!«
»Könnten. Sinds aber nicht.«
»Das sagst du mir so – ins Gesicht?«
»Wohin denn sonst? In den Arsch?«
Ich gab von Brücken die Abschrift zurück.
»Ähem, ich begreife nicht ganz. Stand da jemand hinter einer Säule
versteckt und hat mitstenografiert?«
»Ob hinter einer Säule, weiß ich nicht. Die beiden sollen wirklich laut gewesen sein.«
Von Brücken sah zur Seite, sah zur Decke, dann ließ er den Kopf
sinken und meinte, er habe gesammelt, was zu bekommen war. Er sei ein Sammler
gewesen. Ein leidenschaftlicher Sammler. Ich solle ihn nicht so vorwurfsvoll
anstarren.
1961 bekommt Sofie ihren Magister in Politologie und kein Kind. Rolf unternimmt einen neuen, letzten Versuch, Sofie umzustimmen,
erfolglos. Er beendet die Beziehung danach ziemlich abrupt. Sofie, die
zwischendurch damit geliebäugelt hatte, nach ihrem Abschluß in den Osten
umzusiedeln, wird durch den Bau der Mauer gerade noch rechtzeitig in Zweifel
gestürzt. Darf man Menschen, auch die ganz dummen, zu ihrem Glück zwingen? Und
sogar lebendig einmauern? Mühsam begreift sie, daß ihre Vorstellung eines
gerechten Sozialismus kein Selbstläufer ist, der sich von selbst gegen die
Unterdrückung durchsetzen wird, als logischer, von der Menschheit
herbeigesehnter Fortschritt. Was soll sie nun machen? Weiter an der
Supermarktkasse arbeiten? Jetzt, wo Rolf sie nicht mehr finanziell unterstützt
und Birgits Eltern kurz nacheinander das Zeitliche gesegnet haben, ohne auch
nur einen Pfennig zu hinterlassen, wird die Wirklichkeit zusehends
aufdringlicher. Die KPD ist endgültig verboten, Sofie nimmt von Birgit ein
zinsloses Darlehen auf, um in Ruhe über ihre Zukunft nachzudenken. Beschließt,
ihren Doktor zu machen. Für die ersten Ostermärsche gegen die Atombewaffnung
Deutschlands übernimmt sie organisatorische Aufgaben, ehrenamtlich. Das
Wahlkampfplakat der CDU wirbt mit dem Konterfei Adenauers – Keine Experimente! Sofie
vergießt einige Tränen um die tote Weltraumhündin Laika. Adolf Eichmann wird
vor Gericht gestellt und hingerichtet. Sofie schreibt an Hannah Ahrendt, der
Brief geht in der Post verloren, weswegen sie nie eine Antwort bekommt und
seitdem auf Philosophen nicht gut zu sprechen ist, diese für arrogant hält, und
sich selbst für minderwertig, einer Antwort nicht wert. Elvis dient als Rekrut
in Deutschland, Castro übernimmt die Macht in Kuba, Kennedy wird US-Präsident,
Gagarin erobert das All, Pelé zaubert am Ball, Marilyn Monroe stirbt, Kennedy
behauptet, ein Berliner zu sein. Sofie verliebt sich in Camus, zwar auch in
dessen Werk, hauptsächlich jedoch in seine Gesichtszüge. Leider ist Camus
genauso tot wie James Dean.
»Was stand denn in diesem Brief an Hannah Ahrendt?«
»Keine Ahnung. Es gibt doch das Postgeheimnis. Denken Sie etwa, ich
hätte Sofies Post gestohlen? Von diesem Brief habe ich erst später durch ihr
Tagebuch erfahren. Nein, meine Aktionen verliefen diskret und mit Respekt.
Allerdings mußte ich diese verdammte Mauer bauen lassen, nur um Sofie nicht aus
den Augen zu verlieren.«
Von Brücken grinste mich an. »Entschuldigung, ein Scherz. Aber
grundsätzlich: Der Zweite Weltkrieg war für Deutschland nicht so verheerend
ausgefallen, wie oft behauptet wird. Nur etwa jeder zehnte deutsche Soldat war
gefallen. Die Russen hatten eine sehr viel schlechtere Quote. Und, was auch
betont werden muß: Bei Kriegsende waren nur etwa 15 % der gigantischen deutschen
Fabrikkapazitäten zerstört, das müssen Sie sich immer vor Augen halten. Soviel
zum angeblichen Wirtschafts wunder . Und wenn Sie mir bisher eine gewisse Macht
zugebilligt haben, dann multiplizieren Sie diese bitte mit zehn oder zwanzig,
um den realen Verhältnissen näher zu kommen. Ich war gut dreißig Jahre alt und
ein Gott, oder doch einem Gott so nahe, wie es einem sterblichen Menschen
möglich ist. Was mir wiederum so egal war, daß es zum Heulen ist. Ich hatte
mich mit Arbeit betäubt, aber die Sehnsucht läßt sich nicht … Ach, formulieren Sie das für mich aus.
Lukian wohnte übrigens keineswegs die ganze Zeit Tür an Tür mit Sofie. Das
war ihm nicht zuzumuten. Er bewohnte zwar offiziell diese Wohnung, schlief dort
aber nur an den Wochenenden. Ich konnte ihn schließlich nicht daran hindern,
ein eigenes Leben zu leben, eine Familie zu gründen, sein Glück zu suchen, all
das. Soweit durfte dieser Wahnsinn nicht gehen. Daß er seine Familie dann auf
so tragische Weise verlor – seine junge Frau
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