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Eros

Eros

Titel: Eros Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helmut Krausser
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versuchs. Das Entscheidende bringt sich jeder nur selbst bei.«
    »Was ist das Entscheidende?«
    »Entscheidet sich eben. Von Fall zu Fall. Meist ist es mit einer
Entscheidung verbunden.«
    »Versteh ich nicht.«
    Sofie wirkte abgespannt. Was sie nun sagte, war wohl jahre- und
jahrzehntelang Thema ihrer inneren Dispute gewesen.
    »Ich meine, wer hat Recht? Gandhi oder Che Guevara? Gandhi ist nicht
so sexy wie Che, das ist sicher. Da passiert was, da draußen, das istn
Polizeistaat geworden. Ich meine, man kann seine zwei Backen hinhalten, dann
noch die Arschbacken, aber mehr Backen hat man nicht, danach ist Schluß. Was
soll ich den Leuten sagen, die sich jetzt Waffen besorgen wollen? Ich weiß es
nicht, und ich will nicht verantwortlich sein dafür, was sie tun, wofür sie
sich entscheiden, verstehst du?«
    »Du führst ein aufregendes Leben.«
    »Du nicht?«
    »Naja. Heute ist mal ein aufregender Tag. Sonst …«
    »In deinem Job erlebt man doch viel.«
    »Ja? Man fuhrwerkt sich so durch.« Ich mußte schwer aufpassen, was
ich sagte, war ja vor einer Viertelstunde erst zum Taxifahrer geworden und
konnte nicht mal autofahren. Zwar hatte ich vor fast siebzehn Jahren den
Führerschein gemacht, aber bestimmt alles wieder verlernt.
    Wir unterhielten uns ein wenig über Seneca und die Stoa und Politik,
ich weiß nicht mehr …
    »Was treibst du denn, wenn du nicht Taxi –«
    »Ich mag dieses Lied«, unterbrach ich sie, »hast du Lust zu tanzen?«
    »Hier? In der Küche?«
    »Warum nicht?«
    Im Radio lief Here, There & Everywhere . Sofie nickte.
    Jetzt weiß ich es wieder. Am frühen Abend, im Dunkel des
Treppenhauses, hatten wir kurz über die Beatles geredet, ich nannte ihre Musik
revolutionär, sie habe mein Leben bereichert und bewegt. Sofie hatte
geantwortet, im Zusammenhang mit Musik von revolutionär zu reden, sei
Käse. Wenn, dann seien vielleicht um viele Ecken die Stones in revolutionärer
Sache unterwegs, die braven Beatles bestimmt nicht. Aber Here, There & Everywhere fand auch sie ganz schön . Wenigstens das.
    Schönheit war damals im politischen Sinn kein ernsthafter Terminus,
Schönheit galt als verbotenes Wort, ohne Aussagekraft. Literaten durften es
nicht verwenden, ohne sich dringendstem Kitschverdacht auszusetzen. Allenfalls
tauchte es bei Diskussionen um die Unterdrückung der Frau durch
patriarchalisch-sexistische Ästhetik auf, selbst dann wurde nicht von schön geredet, sondern von attraktiv . Ich freute mich, aus dem Mund von Sofie das
Wort schön zu hören, wenngleich sie, darauf angesprochen, es bestimmt sofort durch was
anderes ersetzt hätte.
    Wir tanzten, aber nicht sehr eng. Es war die Atmosphäre, die uns
zusammenspannte, sonst nichts, die Aura eines frühen, pelzigen Morgens, wenn
die meisten Gäste sich zumindest geistig längst verabschiedet haben, und die
Mattigkeit in eine Phase entrückter Wehmut mündet. Das Lied dauerte drei
Minuten. Ich war im Unendlichen und wünschte mir ein Fallbeil aus dem Himmel,
um durch ein schnelles Ende dieses unbeschreibliche Glück nicht abermals zu
gefährden. Die Unendlichkeit dauert drei Minuten.
    Stattdessen kam Holger und brüllte, man habe Benno getötet, er – und
viele andere nach ihm – redeten von Benno wie von einem nahen Freund. Die Leiche, deren
Abtransport ich mit eigenen Augen mitangesehen hatte, hieß also Benno. Stellen
Sie sich mal vor, er hätte nicht Benno Ohnesorg geheißen, sondern, was weiß
ich, Peter Müller – aber gut, das gehört nicht hierher. Es hieß plötzlich, es
solle eine Art Mahnwache geben, einen stummen Protest, vielleicht auch eine
Kundgebung, wir sollten alle zum Tatort kommen. Einige waren dazu aber partout nicht mehr
in der Lage, andere meinten, es könnne sich um eine Falle der Polizei handeln,
die die Demonstranten nur sichten und registrieren wolle.
    Sofie zog sich ein frisches Hemd an, stand für Momente da und gönnte
mir den Anblick ihres Büstenhalters. Dann ging sie zum Waschbecken in der Küche
und schrubbte sich das Gesicht ab.
    »Kannst du uns in deinem Taxi hinfahren?« Ihre Frage galt mir .
Ich stammelte was von wegen, nö, mein Taxi hätte ich in der Nähe der Oper
stehengelassen, die Reifen seien zerstochen gewesen, deshalb sei ich mit der
U-Bahn hergekommen. Klang gar nicht unglaubwürdig. Statt meiner erbot sich der
wieder einigermaßen ernüchterte Martin, uns hinzufahren; er war, perfekte
Tarnung, tatsächlich als Taxifahrer unterwegs. Wir zwängten uns zu siebt in
seinen Benz, Sofie und

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