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waren nicht allzu viele Leute nach Gulangyu unterwegs. Die meisten Passagiere blieben im überdachten, erleuchteten, mit großen Plexiglasfenstern versehenen Inneren der Fähre, vielleicht, um einer schwachen Andeutung von Kühle in der Luft zu entgehen; in diesen Breiten war es nämlich schon »kühl«, wenn eine Frau in einem Spaghettiträgerkleid, die einem starken Wind ausgesetzt war, eine Gänsehaut bekam.
Kein bisschen kühl war es einer Gruppe von vier männlichen Passagieren, die, den Blick auf Gulangyu gerichtet, auf einem offenen Deck am Bug der Fähre saßen, mit dem Finger hinüberzeigten und sich unterhielten.
Als das Boot mit der Fähre auf gleiche Höhe kam – es fuhr nämlich doppelt so schnell wie das größere Schiff –, nahm Sokolow einen Plastikumhang, warf ihn sich über die Schultern, steckte den Kopf durch die Öffnung in der Mitte und zog sich die Kapuze über den Kopf. Er ließ sie auf und vermied es, sich umzuschauen, bis der Bootsmann ein paar Minuten später den Motor ausschaltete und das kleine Boot die letzten paar Meter bis zum Terminal von Gulangyu treiben ließ.
Als Sokolow ausstieg, warf er einen Blick zurück und sah, dass die Fähre gar nicht so weit hinter ihnen lag, wie er gehofft hatte. Der kleine Flitzer hatte zu Beginn der Fahrt stärker beschleunigt und sich an die Spitze gesetzt, doch als die Fähre erst einmal in Schwung gekommen war, fuhr sie schneller als es den Anschein hatte.
Dennoch gab es einen Grund, warum Leute mehr Geld für die Speedboote ausgaben, und Sokolow schätzte, dass es mit dem Andrang in den Terminals zu tun haben musste. Die Insel Gulangyu rühmte sich einer ganzen Anzahl von Parks, Ausflugszielen und Bars, die vor allem jüngere Leute anzogen, von denen viele gerade jetzt versuchten, auf die Fähre zurück nach Xiamen zu kommen, sodass das Terminal auf dieser Seite viel voller war.
Sokolow machte Anstalten, den Plastikumhang abzustreifen, besann sich jedoch eines Besseren. Der Bootsmann warf ihm einen seltsamen Blick zu. Da hob Sokolow eine nach oben geöffnete Hand und blickte zum Himmel, der Versuch einer pantomimischen Frage: Sieht es für Sie nach Regen aus? Er wusste nicht, ob er überhaupt zu dem Mann durchgedrungen war. Schließlich zupfte er an dem Umhang herum und wedelte mit zwei magentaroten Scheinen. Diese wurden akzeptiert, und der Motorbootfahrer wandte sich ab. Transaktion beendet.
Sokolow warf sich die Kapuze über den kahlgeschorenen Kopf. Er hatte sich die Haare abrasiert, damit er schwerer zu identifizieren war, falls das Büro für Öffentliche Sicherheit einen Zeugen für die Ereignisse dieses Morgens oder irgendwelche Aufzeichnungen auf einer Überwachungskamera gefunden hatte. Hier fiel er damit allerdings in einer Weise auf, die nicht zu seinem Vorteil war.
Er ging ein ganzes Stück durch den Park am Hafen, wobei er ein paar junge Liebespaare aufschreckte, und nahm dann eine Abkürzung hügelaufwärts über eine steile Straße, die von alten Steinmauern eingefasst war. Sie gehörte zu den wenigen Straßen, die auch auf der Karte verzeichnet waren. Sie wand sich, den steilen Konturen der Insel folgend, von einer Seite zu anderen und wich gewaltigen grauen Steinblöcken aus, die von Ranken überzogen, im monströsen Wurzelwerk fremdartiger Bäume gefangen und gelegentlich mit eingemeißelten Treppen versehen waren. Von Zeit zu Zeit blieb Sokolow stehen, wenn er um eine Ecke gebogen war, und warf einen Blick zurück, um festzustellen, ob jemand denselben Weg heraufkam. Etwas Augenfälliges sah er nicht. Doch das Straßensystem der Insel war ein Labyrinth, und Olivias Haus konnte man aus mehr als einer Richtung erreichen.
Tatsächlich wusste er nicht mit Sicherheit, wo er sich befand; er hatte das Gefühl, dass er mittlerweile eigentlich angekommen sein müsste, konnte in der Dunkelheit jedoch keinen der Orientierungspunkte sehen, die er sich vorher eingeprägt hatte.
Eine Zeitlang war ihm die Sicht durch eine Reihe hoher Bäume versperrt, die auf der Innenseite einer Mauer wuchsen und die Grenze eines Grundstücks markierten: irgendeine Schule oder Regierungseinrichtung. Dann kam er auf eine Kreuzung und sah den Orientierungspunkt, den er gesucht hatte: ein auf einer felsigen Anhöhe erbautes Hotel mit Terrassen und Gärten, die eine herrliche Sicht über Gulangyu, die Meerenge und die Stadt jenseits davon boten. Dort hatte er heute schon gesessen, in den Hof von Olivias Haus geschaut, Leute kommen und gehen sehen und
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