Ersehnt
»Lüg mich nicht an! «, schrie er. »Immer lügst du mich an!« Er hatte hässliche rote Flecke im Gesicht. Plötzlich langte er zu mir herüber und riss an meinem Schal. Ich fühlte mich so eingeschlossen in meinem unsichtbaren Käfig, dass ich schockiert war, als er mich tatsächlichberührte. Er zerrte so lange an meinem Schal, bis er ihn wegziehen konnte. Dann öffnete er sein Fenster und warf ihn hinaus in die Nacht. Meinen Schal, meinen Schutz Jetzt flippte ich total aus.
Oh Gott. Atme. Atme. Langsam. Eins, zwei, drei, vier.
Incy raste wie ein Verrückter durch die Nacht. Das Auto geriet auf der frischen Schneedecke immer wieder ins Rutschen.
Wenn er einen Unfall baute, saßen Boz, Katy und ich in der Falle, weil wir uns nicht bewegen konnten. Wenn sich der Wagen überschlug und der Tank Feuer fing, würden wir brennen und brennen, unter solchen Schmerzen, dass wir darüber den Verstand verloren, aber nicht starben.
Incy rammte grob die Hand unter meinen Kragen und seine Finger fanden mühelos meine Narbe mit ihren erhabenen Rändern. »Hältst du mich für blöd?«, brüllte er. »Ich weiß, wer du bist! Ich weiß, was du bist! Dachtest du, ich käme nicht darauf? Ich. Bin. Nicht. Blöd!« Bei jedem Wort hieb er aufs Lenkrad, und bei der daraus resultierenden Zickzackfahrt drehte sich mir fast der Magen um.
Er wusste Bescheid? Über meine Familie, mein Erbe? Wie? Seit wann? War er nur bei mir geblieben, um einen Vorteil daraus zu ziehen? Der Gedanke war deprimierend und vertiefte meine Trauer und Enttäuschung über den Verlust von allem, was Incy und ich einander einmal bedeutet hatten. Incy wusste also, dass ich die einzige Erbin des Hauses von UIfur, dem Wolf, war. Meine Kraft war angeblich immens und uralt. Und Incy würde sie mir wegnehmen.
»Du bist eine selbstsüchtige Schlampe!«, wütete Incy.
»Aber ich habe dich mit offenen Armen aufgenommen. Das hast du nicht verdient, nach allem, was du getan hast. Aber ich habe es trotzdem getan.« Er sah mich mit kalter Boshaftigkeit an und das Auto schlitterte wieder.
Ich hatte mich noch nie so machtlos gefühlt, was eigentlich ein Witz war, weil er ja meine Macht haben wollte. Ich war sicher, dass er längst einen Plan hatte, wie er das anstellen würde. Innocencio würde mir die Kraft meiner Familie stehlen und im Gegensatz zu mir hatte er einen Plan. Es war schon erschreckend genug, was er alles fertigbrachte, wenn er nur die Energie von normalen Leuten stahl. Was würde er mit einer Kraft machen, die so groß und stark war? Ich hatte jedenfalls noch nichts damit angefangen, außer Nell ein bisschenzu ärgern. Ich hatte nichts mit meinem Vermächtnis, meinem Potenzial, meinem Erbe angefangen. Und jetzt verlor ich auch noch jede Chance, es jemals zu tun.
Ich musste mich irgendwie befreien, musste herausfinden, wer ich war und was ich tun konnte, oder ich würde nie wieder etwas tun. Dieses Wissen umhüllte mich wie ein Leichentuch und die Verzweiflung trieb mir die Tränen in die Augen.
***
Gibt es irgendwo ein Handbuch, in dem alle verlassenen Lagerhäuser aufgeführt sind, wohin irre Killer ihre Opfer bringen können? Im Fernsehen, in Filmen und Büchern steht komischerweise immer eins bereit, in das sich der Axtmörder der Woche verkriecht, um seine heimtückischen Taten zu begehen. Anscheinend besaß Incy dieses Handbuch. Sein Unterschlupf schien am äußersten Rand von Boston zu liegen, noch hinter Quincy, auf einem schmalen Streifen Industriegebiet, der in den Ozean ragte. Er fuhr mit dem Caddy an eine Verladerampe und stieg aus, ohne die Scheinwerfer auszuschalten. Sobald er draußen war, kämpfte ich wieder, versuchte mich zu bewegen, dann wieder lockerzulassen und erneut alles anzuspannen, um mich endlich von seinem verdammten Fesselungszauber zu befreien. Ich wusste nicht, wie es Boz und Katy ging. Ich hörte nichts von ihnen und konnte mich nicht zu ihnen umdrehen.
Ich sah zu, wie Incy auf die Rampe sprang und ein Rolltor aus Metall öffnete, hinter dem sich eine undurchdringliche Dunkelheit erstreckte. Mit entschlossener Miene kehrte er zum Wagen zurück und riss die hintere Tür auf.
»Du zuerst«, sagte er grob. Ich hörte raschelnde Geräusche und dann stießen die Beine von jemandem gegen die Lehne meines Sitzes. Erst als Incy Boz aus dem Auto gezerrt hatte und ihn an mir vorbeischleppte, konnte ich einen Blick auf ihn werfen. Sein Gesicht war weiß und
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