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Ersehnt

Ersehnt

Titel: Ersehnt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cate Tiernan
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habe es wirklich versucht. Das ist alles deine Schuld. Du hast dir das selbst zuzuschreiben und das weißt du. So wollte ich das nicht. Ich wollte deinen Tod nicht. Ich wollte dich an meiner Seite haben, Brot und Butter, wie in den alten Zeiten. Wir beide, als gleichberechtigte Herrscher.« Meine Augen weiteten sich. Herrscher? Herrscher wovon? Moment mal - Tod? Tod???
    Incy nahm meine Hand, die sich anfühlte, als hätte ich sie in Eiswasser getaucht - ich spürte es zwar, aber so gedämpft wie durch Watte.
    »Ich habe mir so lange solche Mühe gegeben«, sagte er. »Ich habe alles getan, was du wolltest. Ich war für dich da. Ich habe alles unterstützt, was du machen wolltest. Aber es war nie genug, stimmt's? Du hättest mir danken sollen. Für all meine Bemühungen. Aber du bist einfach verschwunden, ohne ein Wort. Ohne ein Wort!« Er schrie diesen letzten Teil schmerzhaft laut im Wageninnern und hieb mit den Händen aufs Lenkrad. »Du hast mich verlassen!«, brüllte er. »Wie konntest du es wagen! Wie konntest du es wagen! Du bistweggelaufen! Ich musste nach dir fragen! Niemand wusste, Wo du warst! Weißt du, wie beschämend das war? Alle haben sich gewundert, dass ich, deine andere Hälfte, nicht wusste, wo du warst!«
    Ich hatte ihn immer als meinen besten Freund betrachtet, meine andere Hälfte. Das war mir als gute Sache erschienen. Aber jetzt kam es mir vor, als wäre ich ein Gebäude und er war der giftige Efeu, der es überwucherte, die Fenster verdunkelte und ins Innere kroch. Wieder kämpfte ich und meine Arme wehrten sich gegen die nicht vorhandenen Seile. Vielleicht hatte sein Zauber nachgelassen oder er hatte es nicht richtig gemacht oder es ließ allmählich nach ... Nein. Ich versuchte zu schreien und brachte kaum ein leises Mmmhheraus. Ich erstickte in dieser Umklammerung aus dunkler Magie.
    »Und du«, fuhr Incy fort und zeigte mit dem Finger auf mich, wie er es auch im Hotelzimmer getan hatte. War das heute Abend gewesen? Erst heute Abend, vor wenigen Stunden? »Du hast all diese wundervolle Kraft. Hast du je angeboten, sie mit mir zu teilen? Nein. Du bist lieber weggerannt und hast sie Fremden gegeben! Du hast sie diesen lächerlichen Puritanern gegeben! Und denen liegt überhaupt nichts an dir! Im Gegensatz zu mir!«
    Ich stellte fest, dass meine Augen noch fähig waren, Tränen zu bilden. In River's Edge lag allen etwas an mir. Sie hatten mir so viel gegeben und nichts von mir zurückbekommen. Hatte ich jemals Danke gesagt? Ein einziges Mal? Ich konnte mich nicht erinnern. Meine Augen brannten. Die Worte von Solis über Konsequenzen und Ursache und Wirkung tauchten wieder in meinem Kopf auf. Aha - jetzt ließ mir das Universum also einen Amboss auf den Kopf fallen und schrie dazu: »Du hast die falsche Entscheidung getroffen, du idiotische Kuh!« Denn alle anderen Hinweise hatte ich ja geflissentlich ignoriert.
    Incy wollte meine Kraft. Er wollte mehr Power, als ein normaler Mensch ihm geben konnte. Genau wie in meinen Träumen, meinen Visionen.
    Wieso ... wieso verschwendete ich hier meine Zeit damit, mich selbst zu bemitleiden? Plötzlich wurde mein Kopf klar und die hysterische Panik rückte in den Hintergrund. Ich würde mich später mit meiner unendlichen Reue und Verzweiflung beschäftigen. Aber jetzt musste ich meinen Hintern retten, damit ich nach River's Edge zurückkehren und mich für alles entschuldigen konnte. Und danach würde ich mich für den Rest der Ewigkeit in einer Höhle verkriechen. Ich konzentrierte mich darauf, die Panik zu unterdrücken. Denk nach, Nastasja, denk nach. Ich erinnerte mich an all die öden Meditationssitzungen, die sie mir aufgezwungen hatten. Ich holte langsam Luft, eins, zwei, drei, vier. Diese vier Sekunden kamen mir vor wie eine Ewigkeit. Adrenalin befeuerte mein Gehirn, als ich ebenso langsam wieder ausatmete, eins, zwei, drei, vier.Und noch einmal. Zieh die Luft in deinen Bauch, hatte Anne gesagt. Atme nur durch die Nase ein und aus. Atme die Gelassenheit ein, atme die äußeren Einflüsse aus. Atme. Und noch mal.
    Mein Kiefer fühlte sich lockerer an. »Ich hab gar keine Kraft«, murmelte ich nahezu unverständlich.
    Incy warf den Kopf in den Nacken und lachte. Dann verzerrte sich sein Gesicht und er holte aus. Ich konnte mich nicht bewegen, konnte nicht in Deckung gehen. Er schlug mit der Faust so heftig gegen meinen Sitz, dass mein Kopf gegen die Kopfstütze prallte.

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