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Ersehnt

Ersehnt

Titel: Ersehnt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cate Tiernan
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mit Vaseline eingeschmiert worden. Die Ränder waren verschwommen und unscharf. Die Lichter auf der Straße waren undeutliche Schimmer. Incy hörte sich an, als wäre er weit weg.
    Ich versuchte zu schreien, versuchte, einen gellenden Schrei aus den Tiefen meines Bauchs heraufzuholen, aber alles, was ich hörte, war ein schrilles Fiepen. Wieder versuchte ich, Arme und Beine zu bewegen, aber die Schwerkraft war viel zu stark. Und das ließ natürlich die schlimmsten Augenblicke meines Lebens wieder aufleben: In der Nacht, in der meine Eltern starben, hatte mich der Bedienstete meines Vaters auf dem Heuwagen eines Nachbarn versteckt. Endlose Stunden lang hatte ich es nicht gewagt, mich zu bewegen oder auch nur einen Laut von mir zu geben - betäubt vom Schock und aus Angst, entdeckt zu werden. Ich hatte sogar den Hustenreiz unterdrückt, den das Einatmen des warmen Heudunstes auslöste. Ich hielt die Augen fest zugekniffen, als könnte mich die Welt nicht sehen, wenn ich sie nicht sah. Halb erstickt unter der schweren Last des Heus hatte ich stundenlang Zeit, den Tod meiner Eltern und meiner Brüder und Schwestern immer wieder zu durchleben. Immer und immer wieder sah ich den Kopf von Eydis von ihren Schultern kippen und auf den Boden fallen.
    Zu anderen Zeiten, während der Überfälle der Winter-schlächter oder anderer Stämme, hatte ich mich auf Bäumen, in Wurzelkellern oder den speziellen Löchern versteckt, die ich mir überall grub, sogar noch im späten 17. Jahrhundert, als die wilden Horden längst kein Teil meines Lebens mehr waren.
    Ich hatte mich stundenlang an Äste geklammert, meine Röcke um mich gewickelt, und versucht, nicht ein einziges Blatt zu bewegen oder noch schlimmer, eine Eichel oder einen Tannenzapfen loszureißen. Ich hatte still und unbeweglich auf dem Baum gehockt, bis meine Muskeln vor Schmerz schrien, bis ich vor Kälte zitterte und mein Kiefer vom Zu— sammenbeißen der Zähne schmerzte. Als ich mich endlich bewegen konnte, lange nachdem die Eindringlinge abgezogen waren, war mein Körper so steif, dass ich nicht herunterklettern  konnte. Ich war gefallen, hatte mehrere Äste getroffen und war dann so hart auf der Schulter gelandet, dass ich mir das Schlüsselbein brach.
    Später fand ich die Überreste eines Nachbarns, der sich in einem Heuhaufen versteckt hatte und mit ihm in Brand gesteckt worden war. Ein anderer Nachbar hatte sich in einem Fass verkrochen, das die Berserker auf der Suche nach Bier mit der Axt gespalten hatten. Den Kopf des Nachbarn hatte bei dieser Gelegenheit das gleiche Schicksal ereilt. Ich hatte Glück gehabt, denn ich lebte noch, gebrochenes Schlüsselbein hin oder her.
    All meine Erinnerungen an die Zeiten, in denen ich mich nicht rühren durfte, alle Erinnerungen, die mit Terror,Schmerz und Angst verbunden waren, kamen jetzt zurück und wirbelten in mir herum wie Knäuel aus Stacheldraht, wie kreischende Bestien, während ich starr vor Angst und bewegungsunfähig in Incys Wagen saß. Oh Göttin, hilf mir. Oh Gott, oh Gott, oh Gott ...
    Neben mir lachte Incy. Er drehte sich um und betrachtete Boz und Katy auf dem Rücksitz.
    »Ha! Seid ihr nicht schön eingesponnen?« Er lachte wieder. »Und noch besser, ihr seid endlich still. Endlich ist Schluss mit eurem Gejammer und den selbstgefälligen Predigten. Fantastisch!« Er sah mich an. »Siehst du, was ich alles kann, wenn andere mir ihre Power geben? Das macht mich ungeheuer stark, findest du nicht?«
    Vom Rücksitz drangen gedämpfte Laute nach vorn. Incy hatte uns offenbar mit irgendeinem Fesselungszauber belegt. Woher weiß er, wie man das macht?, fragte ich mich zunehmend hysterisch. Hatte ihm das ebenfalls die mysteriöse Miss Edna beigebracht? Ich versuchte mit aller Kraft, mit den Zähnen zu knirschen oder wenigstens einen Finger zu heben, und kreischte innerlich, als nichts passierte.
    Incy seufzte. Wir hatten die großen Straßen verlassen und waren jetzt auf einer unbeleuchteten Nebenstraße. Heilige Mutter, wohin brachte er uns? Das konnte nicht wahr sein. Bei all meiner Angst vor Incy hatte ich nie erwartet, dass es so weit kommen würde, hatte nie geglaubt, dass er sich gegen mich stellen und mir etwas antun würde.
    Ich wollte sagen: »Incy, du liebst mich!«, aber es war, als steckte ich in fester Gelatine, und ich brachte keinen Laut heraus, weil ich meinen Kiefer nicht bewegen konnte. »Weißt du, ich habe es wirklich versucht, Nasty«, sagte Incy, »Ich

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