Ersehnt
zur Seite springen musste.
»Du scheinst dich gern an Leute anzuschleichen«, bemerkte ich schnippisch.
»Ich wollte nur sehen, ob du vielleicht eine Überdosis genommen hast«, sagte er und äffte meinen Tonfall nach.
»Eine Überdosis? Oh, mein Gott, dann machen Steckrüben also doch süchtig?« Ich machte große Augen. »Ich werde sie garantiert nie wieder anrühren.«
Er begleitete mich ungefragt zum Haus. Während ich im Auto gesessen hatte, war die Sonne untergegangen. Jetzt verströmte die Abenddämmerung ihr magisches Zwielicht. Die Tageszeit, zu der man das Gefühl hat, alles wäre möglich. Wirklich alles.
»Kommst du von der Arbeit?«, fragte Reyn und die ganze Szene war so widersinnig, dass ich lachen musste. Er sah mich leicht missmutig an.
»Hat deine Frau das immer zu dir gesagt, wenn du heimgekommen bist?« In der kalten Luft klang meine Stimme ein wenig brüchig und allein der Gedanke, dass er Frauen gehabt hatte, fühlte sich an wie ein Schlag in die Magengrube. »Wie war das Plündern, Schatz? Hast du ordentlich Beute gemacht? Irgendwas Gutes niedergebrannt?«
Und einfach so, blitzartig, kochte Reyn vor Wut. Ich spürte die Veränderung in ihm, noch bevor ich ihm ins Gesicht sah, seine verkniffenen Lippen und die gerunzelten Brauen studieren konnte. Sofort läuteten in mir sämtliche Alarmglocken und ich fragte mich, ob ich es vor ihm ins Haus schaffen würde.
Als er schließlich etwas sagte, war eindeutig, dass es ihn seine ganze Selbstbeherrschung kostete, mich nicht zu erwürgen. »Die Vergangenheit ist nur ein kleiner Teil von dem, was ich bin.« Seine Stimme war angespannt, aber klar. »Genauso wie all die dummen, selbstsüchtigen und zerstörerischen Dinge, die dugemacht hast, nur ein Teil von dir
sind.
Ich wurde rot. »Aber deine Vergangenheit ist viel schlimmer als meine!«
Er zögerte und kämpfte erneut mit sich, seine Wut im Zaum zu halten. »Meine Vergangenheit ist schlimmer als die vieler Leute«, bestätigte er düster und sah mich an. »Und wie läuft deine Gegenwart so? Wie sieht deine Zukunft aus?«
Bevor ich etwas darauf erwidern konnte, stürmte er voraus und ließ mich allein zurück.
***
Sofort, als ich zur Tür hereinkam, spürte ich eine allgemeine Aufregung und Energie in der Luft. Zum Julfest war das Haus mit immergrünen Zweigen und Mistel dekoriert gewesen, aber diesen Schmuck hatten wir vor ein paar Tagen entfernt. Ich hängte meine Steppjacke im Flur auf und war froh, dass Reyn nirgends zu sehen war. Als ich an der Wohnzimmertür vorbeiging, kam River heraus.
»Hi«, sagte sie und lächelte wie gewohnt. River gehört zu den wenigen Unsterblichen, die ich bisher mit silbernen Haaren gesehen habe. Ihre waren glatt und glänzend und fielen ihr über die Schultern, wenn sie sie nicht zusammenband. »Hi«, sagte ich und versuchte, gelassen und ungerührt auszusehen.
»Ich wollte nur eben nachsehen, für welche Pflichten ich heute eingetragen bin.«
»Nicht nötig«, sagte River. »Heute Abend hat keiner irgendwelche Pflichten. Doch oben auf deinem Bett liegt eine Liste mit ein paar Dingen, die du vor dem Essen erledigen solltest. Aber keine Arbeiten wie sonst. Nur einige Dinge, die dich auf unseren Neujahrszirkel vorbereiten sollen.«
»Oh.« Diese magischen Zirkel lösten in mir immer noch eine Mischung aus Vorfreude und Furcht aus. »Dann also ... kein Feuerwerk? Kein Champagner?«
River grinste, was ihre klaren braunen Augen aufleuchten ließ. »Zum Abendessen wird es Champagner geben.«
»Und Feuerwerk?« Ich liebe Feuerwerk. Ich habe in Italien und China ein paar tolle Feuerwerke gesehen, vor ein paar Hundert Jahren. Bevor es all die lästigen Sicherheitsvorschriften gab.
»Nein«, sagte River. »Kein Feuerwerk. Nicht hier im Wald, auch wenn durch den Schnee alles nass ist. Aber ich wette, du wirst es nicht vermissen.«
Weil der Zirkel so aufregend sein würde? »Oh, lernen wir heute Abend Gestaltwechseln?«
Sie lachte und schob mich in Richtung Treppe. »Sehr witzig. Geh, mach dich bereit. Wir essen heute um acht, später als sonst.«
Also kein Gestaltwechseln. Natürlich hatte ich nur einen Witz gemacht, aber wer wusste schon, wozu mächtige Unsterbliche in der Lage waren. Ich schaffte es, Reyn-frei in mein Zimmer zu kommen. Dort drehte ich als Erstes die kleine Heizung auf, damit es wenigstens ein bisschen warm wurde.
Wie versprochen lag auf dem Bett ein Zettel neben
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