Ersehnt
wurden. Am Dienstag hatte die Nachbarin noch im Garten gearbeitet und am Freitag ging man an ihrer Leiche vorbei, die auf einem Stapel anderer Leichen auf der Straße lag.
Aber nicht ich. So viele Leute, die viel besser waren als ich, sind damals gestorben, aber ich blieb stehen und konnte fröhlich meiner Wege ziehen, denn, hey, von meinem Dorf war nichts mehr übrig. Ich hatte überlebt. Immer und immer wieder.
Neben mir seufzte Meriwether und warf einen Blick in Richtung Apothekentresen.
»Es hätte mich treffen sollen, weißt du? Das wäre für jeden besser gewesen.« Sie raffte die leeren Kartons zusammen, um sie nach draußen zur Papiertonne zu bringen.
Ich hockte mich auf die Fersen und war echt geschockt. Der Gedanke war natürlich nicht neu - ich hatte ihn in unzähligen Filmen gesehen und in Büchern darüber gelesen.
Aber jetzt wusste ich, dass Meriwether genau so empfand, in echt, im wahren Leben.
Was war mit mir? Hatte ich je das Gefühl gehabt, dass ich in jener Nacht vor vierhundertfünfzig Jahren hätte sterben sollen? Dass vielleicht mein älterer Bruder hätte leben müssen? Er wäre nicht weggerannt wie ich. Er hätte die Macht der Familie übernommen, ein paar Anhänger um sich geschart und wäre losgezogen, um sich an Reyn und seinem Vater zu rächen.
Oder eine meiner Schwestern? Meine älteste Schwester war so klug und tapfer gewesen. Das Gesicht meines Vaters hatte immer aufgeleuchtet, wenn sie einen Raum be;trat. Ich weiß noch, wie sie und meine Mutter in der Küche gearbeitet haben. Wir hatten zwar Köche und Dienstmäd;chen, aber zu Oestara - Ostern - machte meine Mutter immer ihr spezielles Eierbrot. Sie und Tinna hatten Seite an Seite gestanden, den Teig geknetet, geredet und gelacht. Meine zweitälteste Schwester Eydis war eine Schönheit und meine ständige Begleiterin gewesen. Ihr Haar war lang, gewellt und von einem leuchtenden Rotblond wie die Sonne, wenn sie am Morgen über den Horizont steigt. Sie hatte klare graue Augen. Schon als Elfjährige war sie bekannt für ihre Schönheit und alle warteten darauf, dass sie vier Jahre älter wurde, weil sie sehen wollten, wie schön sie als Erwachsene aussehen würde. Wir beide waren unzertrennlich, hatten uns alle möglichen Spiele ausgedacht, zusammen gelernt und im selben Raum geschlafen.
Dann war da noch mein kleiner Bruder Haakon, Er war dünn und blass, beinahe zart. Ich hatte ein paarmal gesehen, wie mein Vater ihn irritiert musterte, als fragte er sich, wie dieser Junge derselben Verbindung entsprungen sein konnte, die uns andere hervorgebracht hatte. Aber Haakon war süß gewesen, er hatte nie gepetzt und war Eydis und mir treu gefolgt, wenn wir mit Stöcken auf den Schultern herumliefen oder uns im Steinewerfen übten.
Als die Berserker die Tür zum Arbeitszimmer meines Vaters aufbrachen, in dem wir uns verschanzt hatten, hatte ich mich in meiner Todesangst in den Rock meiner Mutter gekrallt. Sie hatte Reyns Bruder lebendig gehäutet - im wahrsten Sinne des Wortes. Er hatte keine Haut mehr gehabt und man konnte all seine Muskeln, Sehnen und Adern sehen. Dann hatte Sigmundur ihm den Kopf abgeschlagen, denn um einen Unsterblichen zu töten, reicht es nicht aus, ihm nur die Haut abzuziehen. Reyns Vater - der den passenden Namen Erik, der Blutrünstige, trug - war mit einem Brüllen auf uns zugestürmt und ich hatte den kurzen Ruck gespürt, als er meiner Mutter den Kopf abschlug. Sie war rückwärts umgefallen und direkt auf mir gelandet und ich hatte unter ihrem wollenen Rock gelegen, bis kaum fünf Minuten später wieder Stille herrschte.
Hätte ich in dieser Nacht sterben sollen? Ja. Reyns Vater hatte geschrien, dass keiner von uns am Leben bleiben dürfte. Meine Geschwister hatten alle Schwerter oder Dolche gehabt; Kinder, die sich einem unbesiegbaren Gegner in den Weg stellten. Ich hatte mich hinter meiner Mutter versteckt. Meine Feigheit war es, die mich gerettet hatte.
Ich hatte einfach so hingenommen, dass ich noch lebte, während meine Familie tot war. Ich hatte mich nie gefragt, wieso das so war oder ob es so sein sollte. Bis jetzt.
»Ich bezahle dich nicht fürs Rumsitzen!« Das Brüllen des alten Mac schreckte mich auf und beförderte mich zurück in die Gegenwart, in der mein Boss auf dem Gang stand, den Kopf vor Wut knallrot. Hinter ihm machte Meriwether ein unglückliches Gesicht. »Und was ist das für ein Mist?« Er zeigte wütend auf
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