Ersehnt
Gedanken an sie verschwendet, abgesehen von: Puh, ein Glück, dass ich mit dem Zeug nichts zu tun habe. »Der Nächste? « River sah uns alle an.
Daisuke sprach als Nächster. Ihn kannte ich am wenigsten von allen Schülern. Ich wusste, dass er zu den Fortgeschrittenen gehörte und oft Einzelunterricht von River bekam. Er war nett, aber sehr still. »Ich nehme mir ebenfalls das Übliche vor«, sagte er mit seiner sanften Stimme. »Die Erleuchtung zu erreichen, mich von allen Wünschen freizumachen und eins mit dem Gott und den Göttinnen zu werden.« Dem verständnisvollen Nicken und Lächeln der anderen nach zu urteilen, war es ihm damit ernst. Er wollte tatsächlich erleuchtet werden. Was war ich doch für ein Loser.
Und so ging es um den ganzen Tisch herum. Manche guten Vorsätze waren klein oder witzig, wie weniger Zucker zu essen oder die Farmkatzen öfter zu streicheln, andere waren größer,. wie geduldiger oder freundlicher zu werden. River nahm sich vor, verständnisvoller zu sein, was meiner Meinung nach dasselbe war, als würde Wasser sich vornehmen, in Zukunft nasser zu sein. Ich sah wirklich nicht, wie sie noch verständnisvoller sein wollte.
Ich zermarterte mir das Gehirn, um etwas zu finden, das nicht beleidigend rüberkam, wie öfter zusammenpassende Socken zu tragen, aber auch nicht zu lächerlich und anspruchsvoll, wie etwa eines Tages ein guter Mensch zu werden.
Gleich würde ich an der Reihe sein. Ich spürte, wie die Panik in mir aufstieg, und fragte mich, ob ich mich einfach drücken sollte, aber wenn ich die Einzige war, die es nicht fertigbrachte, einen mickrigen guten Vorsatz zu formulieren, hätte ich wieder etwas vergeigt und das, wo ich doch kaum eine Ausrede dafür hatte, überhaupt am Leben zu sein - »Nastasja?« Rivers braune Augen waren - ja, natürlich; verständnisvoll.
Ich kippte etwas von meinem Champagner, um noch ein paar Sekunden zu schinden - ich war wirklich das Letzte -, und dann sagte ich das Erste, was mir in den Kopf kam. »Ich nehme mir vor ... mehr Vertrauen zu haben.« Keine Ahnung, wo das hergekommen war. Aus dem Nirgendwo.
Alle sahen mich an und ich war total verlegen. River schien ein wenig überrascht und betrachtete mich mit schief gelegtem Kopf. Überrascht und nachdenklich.
»Ein ausgezeichneter Vorsatz«, sagte Asher in die Stille. »Ja«, bestätigte Anne. »Wundervoll. Schön für dich.«
Jetzt war ich noch verlegener. Dieser gute Vorsatz war aus dem Nichts aufgetaucht und doch ... unangenehmerweise wurde mir klar, dass ich es tatsächlich so meinte. Ich traute niemandem, nicht einmal mir selbst. Nicht meinen Entscheidungen, meinen Emotionen, meinen Plänen, meiner Arbeitsmoral, meiner Ernsthaftigkeit, meinem Aussehen - gar nichts. Das Einzige, was wirklich verlässlich an mir war, war meine Fähigkeit, in jeder Lebenslage alles zu ruinieren. Das war so sicher wie das sprichwörtliche Amen in der Kirche. »Und jetzt Reyn«, sagte River.
Los, kann bitte jemand mein Champagnerglas nachfüllen, dachte ich. Ich konnte Reyns Anspannung neben mir spüren, fühlte die Wärme seines Beins neben meinem.
Die ganze Runde wartete gespannt. Ich fragte mich, was Reyn letztes Jahr gesagt hatte.
»Ich nehme mir vor ... dass ich versuchen will, glücklicher zu sein«, sagte er peinlich berührt.
Schweigen. Alle starrten ihn an und ich wusste genau wieso: Er war nicht gerade ein Musterbeispiel für Ausgelassenheit und Fröhlichkeit. Sogar jetzt verriet mir ein kurzer Seitenblick, dass er beinahe mürrisch auf den Tisch starrte, die Hände auf beiden Seiten des Tellers zu Fäusten geballt. »Perfekt, Reyn«, sagte River sanft. »Ich danke dir.«
Reyn öffnete eine Faust, nahm die Gabel in die Hand und begann, sich durch das Essen auf seinem Teller zu arbeiten. Ich wette, dass es für ihn schmeckte wie Sägemehl.
Dann war ich also der am wenigsten vertrauensvolle Mensch der Welt und er der unglücklichste.
Wir waren schon ein tolles Paar.
6
Um halb zehn war ich müde genug, um ins Bett zu gehen und diese ganze Neujahrs-Zirkel-Geschichte sausen zu lassen, aber auch hier war mir klar, dass ich die Einzige sein würde, die kniff, und das ließ mein Stolz nicht zu. Endlich war es dann halb zwölf und Zeit für den Zirkel.
Ich fing Rachel und Charles an der Hintertür ab und schloss mich ihnen an, um bloß nicht allein durch den dunklen Wald laufen zu müssen. Schon wieder ein Zirkel. Ob ich mich wieder
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