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Ersehnt

Ersehnt

Titel: Ersehnt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cate Tiernan
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holen. Als ich zurückkam, war sie weg und ich fing an, alles aufzufegen. Innerlich bebte ich und mein panisches Geheule hallte nur in meinen eigenen Ohren herum. Ich hatte außerhalb von Rivers Anwesen Magie praktiziert. Dunkle Magie. Es war sehrwahrscheinlich, dass ein anderer Unsterblicher meine Energie spüren und mich an der Signatur erkennen konnte. Jemand wie Incy.
    Ich versuchte, normal zu atmen. Nein, bestimmt nicht, sagte ich mir. Es hatte ja nur eine halbe Sekunde gedauert. Es war nur eine Kleinigkeit gewesen. Eine Winzigkeit. Und in Zukunft würde ich sehr vorsichtig sein, damit so etwas nicht noch mal passierte.
    Das sagte ich mir wieder und wieder, auf der ganzen Heimfahrt. Trotzdem erwischte ich mich dabei, wie ich immer wieder in den Rückspiegel sah, als wäre der Teufel hinter mir her.

4
    Ich war im Herbst nach River's Edge gekommen. Die Bäume hatten in Flammenfarben geleuchtet, in Rot-, Gold-und Orangetönen, und die Welt war dabei gewesen, alles für den Winter herunterzufahren. Als ich jetzt mit meinem kleinen alten Auto die lange unbefestigte Zufahrt zu Rivers Haus entlangfuhr, waren die Bäume kahle Skelette, an denen nur vereinzelte braune Blätter hingen. Vor zwei Monaten hatte der Wald dicht und undurchdringlich gewirkt, jetzt konnte ich zwanzig Meter weit hineinsehen. Im Frühling würde es hier wunderschön sein.
    Ich stellte überrascht fest, dass ich tatsächlich plante, im Frühling noch hier zu sein. Ich wollte hier sein, wollte die Veränderungen sehen. Natürlich nur, wenn mein kleines Versagen im Laden nicht diesen Schmetterlingseffekt hatte und mein Leben und das Leben von allen anderen um mich herum nun vollständig ruinierte.
    Ich sehe alles viel zu schwarz? Hey, wenn ich ein kleiner Sonnenschein wäre, würde ich hier bestimmt nicht abhängen! Als ich um die letzte Kurve bog, kam das Haus in Sicht, groß und weiß und eckig. Als ich das erste Mal herkam, hatte es streng und fast bedrohlich auf mich gewirkt, aber jetzt spürte ich eine sanfte Wärme in der Brust, als ich vorfuhr und neben Rivers rotem Pick-up parkte.
    Ich blieb noch eine Minute im Auto »sitzen mit meinen Gefühlen«, wie Asher mir beizubringen versuchte. Was ich abgrundtief hasste. Ich bin nämlich eine Meisterin im Verdrängen jeglicher Empfindungen. Wie sich herausstellte, kann man Gefühle so perfekt unterdrücken, bis man glaubt, gar keine zu haben, aber dennoch sind sie in einem. Das war eine der widerlichsten Erkenntnisse, die ich seit meiner Ankunft hatte. All diese Emotionen, die ich nicht einmal gefühlt hatte, steckten quasi zusammengerollt in mir wie schwarze Galle und fraßen sich durch meine Psyche, bis ich kurz davor stand, verrückt zu werden. In den letzten zwei Monaten habe ich mehr Emotionen gehabt - und zugelassen - als in den vergangenen hundert Jahren.

    Und obwohl ich mir halbwegs einreden konnte, dass es sich so besser und gesünder lebte, fiel es mir schwer, die Überzeugung loszuwerden, dass es eigentlich der größte Mist war.
    Was fühlte ich? Ich legte die Stirn aufs Lenkrad und schloss die Augen. Panik natürlich, wie immer, wenn mein Gehirn merkte, dass ich mich tatsächlich mit etwas auseinandersetzen wollte, statt davor wegzurennen. Dabei ist Letzteres doch so viel angenehmer.
    Ich war ... froh, hier zu sein - vermutlich. Vor allem jetzt, wo Nell weg war und mir nicht länger eine Verwünschung nach der anderen auf den Hals hexte. Ich freute mich darauf, und alle zu sehen. Außer Reyn.
    Lüg nicht. Dein Herz schlägt schneller, wenn du ihn siehst, deine Hände schwitzen, deine Lippen -
    Genau das ist der Grund, wieso es so bequem ist, Gefühle einfach zu unterdrücken. So was wie das würde sich ja wohl niemand freiwillig antun. Ich seufzte und dann klopfte es an der Seitenscheibe, was mich fast zu Tode erschreckte. Ich hatte nicht gespürt, dass sich jemand genähert hatte.
    Mein Kopf fuhr herum und da war er: Reyn. Ganze ein Meter achtzig goldenes Wikinger-Desaster.
    Als ich das erste Mal herkam, war es ganz genauso gewesen - ich hatte den Kopf auf dem Lenkrad gehabt und Reyn hatte ans Fenster geklopft. Damals hatte er mir förmlich den Atem verschlagen - auf seine mürrische, unfreundliche, fantastische, misstrauische Art. Und jetzt zog er diese Nummer schon wieder ab.
    Aber ich war nicht mehr die Elendsgestalt, die hier im Herbst angekrochen gekommen war. Ich zog den Zündschlüssel ab und stieß die Tür so energisch auf, dass er

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