Ersehnt
pumpte wie ein Blasebalg, weil ich sonst nie rannte und vollkommen außer Form war.
Schließlich fiel ich in den Schritt und blieb irgendwann ganz stehen, weil ich nicht mehr laufen konnte. Ich war ent— setzt und in Panik. Ich war allein draußen, in der Nacht. Peinlicherweise hoffte ein kleiner Teil von mir, dass jemand meinen Fußspuren folgen und mich finden würde - aber das wäre schrecklich, weil ich dann zurückgehen müsste. Schon wieder. Und ich würde mich erneut den grauenvollen Dingen stellen müssen, die mich im Land der Wirklichkeit erwarteten.
Ich fing an zu weinen.
Noch vor ein paar Wochen hatte ich im dunklen Asphalt meiner Seele einen kleinen Riss entdeckt, durch den ein Son— nenstrahl fiel. Ich war in der Lage gewesen, die Dinge auf— zuzählen, die ich richtig machte. Ich hatte Fortschritte gese— hen - ehrlich. Was war geschehen? Alles ging den Bach runter: mein ganzer Aufenthalt in River's Edge, meine Bezie— hungen zu allen anderen, meine Magie, meine Ausbildung ... Ich hatte mich so vielem gestellt - meinem Erbe, meiner Ver gangenheit, meiner Leere. All das hatte ich zugelassen, und Jetzt ging es mir schlechter als bei meiner Ankunft, ich jetzt wusste, was für ein grässlicher Mensch ich tat;sächlich war.
Was stimmte nicht mit mir?
Ich ließ mich ins schneebedeckte Gras fallen, das unter meinem Gewicht knisterte. Zu Tode frieren konnte ich mich ja leider nicht. Ich würde eine Unterkühlung bekommen und irgendwann das Bewusstsein verlieren, aber ich würde nicht sterben. Ich blinzelte müde und meine Tränen fühlten sich an den Wimpern eiskalt an. Genau wie in London hatte ich einen Punkt erreicht, an dem ich den Schmerz nicht mehr aushalten konnte.
Ich weinte, bis mir die Rippen wehtaten und ich das Gefühl hatte, ich müsste mich übergeben. Das Gras zerkratzte mir das Gesicht, das schon unter den Zweigen im Wald gelitten hatte ,und meine Tränen brannten in den Wunden.
Ich schloss die Augen. Vielleicht würde ich dann aufwachen und wieder auf Tahiti sein und das alles wäre nur ein schlimmer Traum. Auf Tahiti war ich Sea Caraway gewesen. Incy war Sky Benolto. Ich hatte Zeug aus Muschelschalen gebastelt, das dann in den örtlichen Läden verkauft wurde. Das war in den 1970er-Jahren gewesen. Nachdem ich in den 60ern Hope Rinaldi war. Und bevor ich in den 80ern zu Nastasja Crowe wurde.
Mir tat der Kopf weh. Die Kälte verstärkte das Hämmern noch. Ich wollte doch nur glücklich sein. Wann war ich das letzte Mal glücklich gewesen? Ich dachte daran, wie es war zu lachen. Wann hatte ich das letzte Mal gelacht?
Mir drehte sich der Kopf und ich versuchte, mich ans Lachen zu erinnern, heraufzubeschwören, wie mein Lachen geklungen hatte.
***
Ich hörte das leise Klimpern von Champagner-Kristallgläsern, die auf einem Silbertablett zart gegeneinanderstießen. Einer der Kellner im Pinguinfrack bewegte sich durch die Gästeschar. Ich schnappte mir ein Glas von seinem Tablett, mein sechstes, und genoss es, wie die goldenen Bläschen meine Nase kitzelten.
»Liebste.« Incy lächelte und prostete mir zu.
»Schatz.« Ich lächelte zurück. James. Sein Name war James. Wir waren seit etwa dreißig Jahren befreundet. Und beste Freunde seit achtundzwanzig.
»Prentice! Darling!« Sarah Jane Burkhardt drängte sich zu mir durch und wir tauschten Luftküsschen. Sarah Jane war eine angesagte, welterfahrene Zwanzigjährige - eine der Töchter unserer Gastgeber. Wir hatten uns ein paar Monate zuvor bei einer Hausparty auf Long Island kennengelernt. Sie hielt ihre lange Zigarettenspitze aus Elfenbein zur Seite, damit keine Asche auf mein goldenes Abendkleid fiel. »Wie hast du es geschafft, dich von Sir Richard loszuei;sen?«, fragte ich sie kichernd und musste wieder daran den;ken wie fröhlich ich zum Abschied gewinkt hatte, als der alte Knacker Sarah Jane wieder einmal gezwungen hatte, sich seine Kriegsgeschichten anzuhören. Es war 1924. Der Krieg war schon lange vorbei und würde sich nie wieder;holen. In Amerika war das Horten von Lebensmitteln jetzt seit fünf Jahren vorbei, niemand brauchte mehr Kriegsanlei hen zu kaufen und es wurden auch keine Getreideladungen mehr nach England oder Frankreich verschifft. Jetzt war endlich wieder die Zeit für wundervolle Partys mit wundervollen Leuten. Klar, die lächerliche Prohibition sorgte dafür, dass man mit dem Alkohol ein bisschen vorsichtig sein musste, aber es gab so viele Wege, sie
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