Ersehnt
Wir hatten ein Jahrhundert lang aneinander geklebt wie ein Toffee an den Zähnen. Konnte ich wirklich die ganze Zeit auf dem Holzweg gewesen sein?
Und nun waren wir hier. Nachdem ich mich zwei Monate lang vor ihm versteckt hatte.
Beim Anblick von Innocencios Silhouette, die über das weiße Feld auf mich zukam, dachte ich nicht sofort an all die lustigen Erinnerungen, die uns verbanden. Stattdessen stürzte sich mein Gehirn auf die niederschmetternden Visionen, die widerwärtigen Träume und meine wachsende Angst vor ihm. Wurden meine Albträume neuerdings grundsätzlich wahr? Mein Herzschlag hatte sich verlangsamt wie bei einem Igelim Winterschlaf, aber jetzt pochte mein Herz ein paarmal heftig und kam wieder auf Touren. Ich war ein seelisches und körperliches Wrack und konnte unmöglich gegen Innocencio kämpfen oder vor ihm wegrennen. Außerdem war ich zu weit vom Haus entfernt, als dass man dort meine Schreie hören würde. Ich atmete die beißend kalte Luft tief ein und versuchte, mich trotz meiner froststarren Gelenke aufzusetzen.
Innocencio. Jedes Mal, wenn ich ihn mir in letzter Zeit vorgestellt hatte, war er blutverschmiert und total verrückt gewesen. Und jetzt war er hier: Meine schlimmsten Ängste materialisierten sich aus der Dunkelheit, als hätten meine eigenen Gedanken ihn geschaffen, ihn hierher geführt.
Im Idealfall hätte ich jetzt aufspringen und eine drohende Kampfhaltung einnehmen können, aber wie es aussah, ver;körperte ich wohl eher die Opferrolle. Ich kämpfte mich in eine sitzende Position hoch und lehnte mich schwer gegen einen Zaunpfahl. Meine Hände zuckten nervös auf meinem Hosenbein herum.
»Incy?« Es war kaum mehr als ein Krächzen.
Die große, schlanke Figur kam näher und mir stockte der Atem, als ich den ersten Hauch von seinem Kölnischwasser wahrnahm. Er benutzte schon seit den Dreißigerjahren das;selbe - 4711. Jede Zelle in meinem Gehirn erkannte diesen Duft.
»Nas - ich kann es nicht glauben. Du bist es wirklich. Ich habe nach dir gesucht.« Jetzt war er bei mir und ich versuchte sinnloserweise, die Arme hochzureißen, um mich we;nigstens ein bisschen zu schützen. Aber meine Muskeln waren steinhart und kalt und ich konnte mich kaum bewegen.
Ich versuchte, Stärke auszustrahlen, aber all meine Ängste rotteten sich zu einem Wirbelwind aus Stacheldraht zusammen, der meine Fähigkeit zu denken in Fetzen riss.
In diesem Moment trieb die dichte Wolkenbank plötzlich am Mond vorbei und die dünne Mondsichel ließ ein fahles Licht auf uns fallen. Ich sah zu ihm auf, das Herz in der Kehle ... und blinzelte verblüfft. Incy sah ... erstaunlich normal aus. In meinen Visionen hatte er sich aufgeführt wie ein Wilder, wie jemand, der in die Klapsmühle gehörte, mit Augen, aus denen Wut und Entschlossenheit sprühten. Aber er sah gut aus - schick gekleidet, das Haar ordentlich zurückgekämmt. Er war glatt rasiert und seine Augen blickten ruhig und besorgt.
»Ich habe dich überall gesucht«, wiederholte er. »Dann bin ich hier vorbeigefahren und ich ... ich habe dich gespürt.« Er deutete auf die Pampa um uns herum. »Ich dachte, ich wäre verrückt geworden, aber das Gefühl war so stark - und hier bist du tatsächlich.« Er sah mich prüfend an. »Was machst du hier draußen?«
Total ausflippen war vielleicht nicht die perfekte Antwort. Aber er erwartete ohnehin keine.
»Mein Gott - sieh dir deine Haare an!« Er kicherte. »Die Farbe habe ich bei dir schon seit - ach, noch nie gesehen. Aber du erfrierst ja!«, fügte er hinzu und zog seinen dicken Kaschmirmantel aus, der vermutlich viertausend Dollar gekostet hatte. Er legte ihn über mich und ich musste daran denken, wie ich vor nicht allzu langer Zeit auch draußen ge;weint hatte und River mir ihren Mantel umgelegt hatte. Wie an jenem Tag war ich auch jetzt wieder geschockt von der plötzlichen Wärme.
»Ich wollte gerade wieder reingehen«, behauptete ich und räusperte mich. »Sie erwarten mich jeden Moment. Also, was willst du?« Meine Stimme war vom Weinen ganz zittrig und rau.
Er lachte verlegen auf. »Tut mir leid, Darling. Mich so anzu;schleichen wie ein Stalker,« Er beugte sich zu mir herab, seine wundervollen handgearbeiteten Stiefel knirschten auf dem gefrorenen Gras und er streckte mir die Hand entgegen, um mir aufzuhelfen. Mein Misstrauen verbot mir, ihn zu berühren und ich kämpfte mich allein auf die Füße, obwohl jeder einzelne
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