Ersehnt
wurde ich wieder etwas wacher, denn etwas war in mein Energiefeld eingedrungen. Ein Tier? Ein Mensch? River oder jemand von River's Edge? Reyn? Ich schloss die Augen, denn die Verzweiflung drohte mich zu überwältigen. Wenn ich ganz leise war, würden sie mich vielleicht nicht finden. Was für ein aussichtsloser Gedanke.
Es war unglaublich dunkel hier draußen, ohne Mond und den schwarzen Wolken, die die Sterne verbargen. Aber ich spürte ganz genau, dass jemand auf mich zukam, und öffnete die Augen. Ich konnte kaum über das schneebedeckte, gefrorene Gras hinwegsehen. Doch dann tauchte eine dunkle Figur darin auf und kam auf mich zu.
Nicht Reyn. Nicht River.
Ich lag bewegungslos da und starrte nur hin. Es war Incy.
17
Incy.
Ich hatte ihn kurz vor der Jahrhundertwende kennengelernt, 1899. Man sollte meinen, dass eine so lange und enge Freundschaft irgendwie dramatisch begonnen haben müsste, zum Beispiel, indem er mir das Leben rettete oder ich ihm das Pferd stahl. Aber als wir uns trafen, verhökerte er gerade gefälschte Kunstwerke in New York. Ich war mit einer Freundin unterwegs, um einen »kürzlich entdeckten« Druck von del Sarto zu besichtigen. Es war zu einer Zeit, als es die ganzen wissenschaftlichen Methoden zum Bestimmen von Alter und Echtheit von Kunstwerken noch nicht gab. Natürlich wurden immer Experten zu Rate gezogen, aber die Leute zu betrügen, war definitiv einfacher als heute. Ja, ja, die guten alten Zeiten.
»Mrs Humphrey Watson«, kündigte uns der Portier an. »Mrs Alphonse North.«
Ich mochte Eugenia Watson und wir waren inzwischen schon seit fünf Jahren gute Freundinnen. Einen Mr North hatte es nie gegeben - ich hatte den toten Ehemann erfunden, weil eine verheiratete Frau, selbst als Witwe, größere Freiheiten hatte als eine Single-Frau.
Wir waren mit Eugenias Kutsche zu unserer Freundin gefahren und ihr Lakai half uns, die lästigen bodenlangen Röcke und die vielen Unterröcke über die kleinen Trittstufen der Kutsche auf den Bürgersteig zu zerren. Die Tournüren waren jetzt zum Glück wieder kleiner, aber meine Taille war auf modische vierzig Zentimeter zusammengeschnürt. Man braucht nur mal mit den Händen einen Vierzig-Zentimeter— Kreis zu formen, dann wird klar, wie eng das war. Es grenzte an ein Wunder, dass meine Verdauung noch funktionierte. »Coral!«, sagte Eugenia und hauchte unserer Freundin Mrs Barrett-Smith Küsschen auf beide Wangen.
»Eugenia!«, freute sich Coral. »Und Sarah, meine Liebe. Ich danke euch für euer Kommen.«
»Wir haben für die Einladung zu danken. Wir sind überaus interessiert an dem Druck, den du entdeckt hast«, sagte Eugenia und ich wusste, dass es ihr ernst war, denn ihr Mann arbeitete für eines der führenden Auktionshäuser der Stadt. Wenn Coral wirklich eine Quelle für Drucke des 16. Jahrhunderts gefunden hatte, wollte Eugenia das wissen.
»Zuerst möchte ich euch den Mann vorstellen, dem ich diese Entdeckung verdanke«, sagte Coral. Sie deutete graziös zur Seite und ein elegant gekleideter Mann trat aus dem Schatten einer Nische heraus. »Mrs Watson, Mrs North - das ist Louis Carstairs.«
Und das war Incy. Er sah hervorragend aus, war wunder;voll gekleidet, wirkte ein wenig fremdländisch und war - was ich erst merkte, als er mir die Hand küsste - unsterblich. Dass seine Augen wie als Antwort auf meine Erkenntnis kurz aufleuchteten, bekamen meine Freundinnen nicht mit.
Nun, der Druck war eine Fälschung, was Coral niemand sagte. Sie kaufte ihn und war ungeheuer stolz darauf. Sie und Incy hatten mehrere Jahre lang eine leidenschaftliche Affäre und er und ich wurden Freunde. Wir genossen beide das Leben in vollen Zügen, amüsierten uns über dieselben Dinge und kamen meistens prima miteinander aus. Natürlich gab es auch gelegentlich Streit, aber wir versöhnten uns schnell wieder. Mit Incy war alles viel lustiger, spannender, abenteuerlicher. Er war es, der mich dazu drängte, in meinem Auftreten kühner zu werden, und er sorgte dafür, dass mir extrovertiertes Benehmen weder bei mir noch bei ihm peinlich war. Ich war schon immer gern gereist, aber es war Incy, der vorschlug, dass wir unsere Wohlfühlzonen verlassen und nach Ägypten, Peru oder Alaska reisen sollten.
All diese Jahre hatte ich das Gefühl gehabt, dass die Gesellschaft von Innocencio mir erlaubte, mein echtes Ich zu leben, das ganze, komplette Ich. Das hatte ich wirklich so empfunden. Wie hatte ich mich so irren können?
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