Ersehnt
darüber gesprochen. Aber egal. Jetzt bist du hier, auf dieser Farm. Warst du die ganze Zeit hier? Läuft es ... gut für dich?« Er deutete in die ungefähre Richtung von River's Edge.
»Gut« war nicht der Ausdruck, den ich für meinen Aufenthalt gewählt hätte. Also zuckte ich nur mit den Schultern.
»Hör zu, wenn ich weiß, dass du hier glücklich und zufrieden und unter Freunden bist, kann ich mit gutem Gewissen abreisen«, sagte er lächelnd. »Weil ich dann weiß, dass es meiner Freundin gut geht.«
Freundin. Wir waren Freunde - und das schon so lange. Meine Beziehung zu ihm schien die Definition für Freundschaft zu sein. In Notfällen rief ich stets ihn an und er kam mir immer zu Hilfe. Wenn er in der Klemme steckte, war ich für ihn da. Wir gingen shoppen und beeinflussten, was der andere trug. Lange Zeit waren meine endlosen Tage nur erträglich gewesen, weil Incy da war. Wenn ich deprimiert war, machte er die verrücktesten Dinge, um mich aufzuheitern. Okay, der Stripper, den er mir geschickt hatte, war nicht seine beste Idee gewesen, aber trotzdem. Wir schickten uns gegenseitig Süßigkeiten und Blumen und kleine Geschenke, die wir irgendwo entdeckt hatten und die uns an den ande;ren erinnerten. Er hatte mir mal einen Studebaker geschenkt. Von mir hatte er eine Corvette bekommen und natürlich zu Schrott gefahren.
Wir beide machten lieber was zusammen, als mit irgend;jemand anderem Zeit zu verbringen. Ich schaute auf in seine Augen, die so dunkel waren wie der Nachthimmel. Ich hatte schon eine Million Mal in diese Augen geschaut, kurz vor dem Einschlafen, über einen Dinnertisch hinweg, auf unzäh;ligen Ozeandampfern, in einer Notaufnahme.
Wen konnte ich in River's Edge als Freund bezeichnen? Mir wurde unangenehm bewusst, dass ich dort keinenFreund hatte. Natürlich wurde ich dort nicht gehasst, aber ich hatte keinen richtigen Freund, nicht so wie Incy und ich befreundet waren oder auch nur so wie meine Freundschaft zu Boz und Katy. Ich dachte daran, wie Anne und Amy Arm in Arm gingen, wie Brynne und Rachel zusammen lernten und dabei die Köpfe zusammensteckten. Ich hätte gedacht, dass Brynnes fröhliche Art Rachels ernsthaften Eifer stören würde, aber was die Magie betraf, waren sie sich anschei;nend ziemlich ähnlich.
Ich war ein Außenseiter gewesen, als ich dort ankam, und das hatte sich in den mehr als zwei Monaten nicht geändert. Ich musste mir eingestehen, dass ich daran vermutlich selber schuld war, und dachte an die vielen Angebote, die ich abge;lehnt hatte; die Einladungen zu Spaziergängen, zu Filmaben;den - einmal auch zu einem Nachmittag des Plätzchenbackens. Ich hatte mich nie darauf eingelassen und mich stattdessen in mein Zimmer verzogen.
Ich musste daran denken, wie River mir gesagt hatte, dass ich niemals einen anderen Menschen lieben würde, solange ich mich selbst nicht akzeptierte. Dieses Ziel war immer noch so unerreichbar wie an dem Tag, an dem ich hier wie ein hungriger Köter angekrochen war.
Oh, Gott - ich hatte es so verbockt und die letzten beiden Monate verschwendet. Ich hatte mir selbst etwas vorgemacht. All diese ernsthaften Bemühungen, mein dämlicher, jämmerlicher Job, meine tölpelhaften Versuche, etwas zu lernen und dazuzugehören - es gab eine schmerzliche Erinnerung nach der anderen. Was hatte ich mir nur dabei gedacht? Wieso hatte ich es überhaupt versucht? Ich rief mir das ewig geduldigeLächeln der anderen zurück ins Gedächtnis, die portionierten Erklärungen von grundlegendem Kram, den jeder Unsterbliche der ganzen Welt kannte - außer mir natürlich. Vermutlich lachten sie sich halbtot über mich.
Incy stieß eine weitere Atemwolke aus. »Ich hatte Massachusetts nicht so kalt in Erinnerung«, sagte er. Er schaute auf, als eine feine Schneeflocke herabschwebte wie eine winzige Feder. Eine weitere Flocke gesellte sich zu ihr. Na super. Jetzt wurde ich zusätzlich zu allem anderen auch noch eingeschneit. Ich hatte immer noch kein Ziel, wusste nicht, wohin mit mir. Und ich würde Incy seinen Mantel zurückgeben müssen.
Und dann? Oh ja, ich hatte das alles wirklich gut durchdacht. Traf tolle Entscheidungen. Hatte so viel gelernt.
Plötzlich lächelte Incy und sah auf mich herab. »Weißt du noch, wie wir in Rom waren - wann war das? In den Fünfzigern? Späten Fünfzigern? Wir waren in diesem Restaurant und Boz hat eine Geschichte erzählt und der Kellner hat diese Riesenschüssel
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