Erskine, Barbara - Mitternacht ist eine einsame Stunde
kaum ein Flattern unter ihren frostigen Fingern. Weil sie zuviel Angst hatte, ihn weiter zu berühren, schob sie seine Hand unter die Decke und stand auf. Der Stein, den sie für Alison hereingeholt hatte, lag noch an der Feuerstelle. Nachdem sie ihn auf den Ofen gewuchtet hatte, öffnete sie die Türen und legte noch ein Scheit auf. Dann ging sie zu ihrem Kassettenrecorder. Das Requiem steckte noch im Gerät. Als die Musik den Raum erfüllte, warf sie einen Blick zurück auf Bill.
Es war lange her, seit sie zuletzt gebetet hatte. Sie hatte es nicht mehr getan, seit sie als kleines Kind neben dem Bett gekniet hatte, die Hände ordentlich und inbrünstig unter dem Kinn gefaltet; um ein Pony hatte sie damals gebetet. Sie hatte es nie bekommen, und ihr Glaube, der für kurze Zeit in ihrem Inneren entflammt war, war enttäuscht zusammengeschrumpft und abgestorben. Sie war nicht sicher, ob sie noch wußte, wie man betete. Vater unser, der du bist im Himmel, rette Bill. Bitte, rette ihn und beschütze uns. Erlöse uns von dem Bösen. Denn dein ist das Reich. Sie ließ die Augen offen, ließ den Blick durch das Zimmer wandern, wollte, daß die Musik sie beruhigte und tröstete. Hinter ihr, auf dem Fensterbrett, war die Wasserpfütze auf ihrer Seite des Rahmens größer geworden. Ein Tropfen fiel von der Kante auf den Boden. Und noch einer.
Das Pie Jesu war zu Ende. Das Zimmer versank in Schweigen, das nur durch das scharfe Klicken unterbrochen wurde, als der Recorder sich abschaltete. Sogar der Wind schien sich vorübergehend gelegt zu haben. Eine Weile blieb Kate reglos sitzen, dann stand sie auf. Sie nahm das Handtuch, das sie aus dem Badezimmer geholt hatte, und wickelte es um den heißen Stein. »Bill?« flüsterte sie. »Bill? Schläfst du?« Das schwere heiße Bündel umklammernd, schaute sie auf ihn hinunter. Seinem bleichen, total gelassenen Gesicht nach war er weit weg. Die Wunde an seiner Schläfe hatte jetzt zu bluten aufgehört. Sie konnte sehen, wo das Blut zu einer getrockneten Kruste auf seiner Haut geronnen war. »Bill, ich lege dir das an die Füße. Das hilft dir, dich warm zu halten.« Aber es ging nicht. Seine Füße hingen über den Rand des Sofas herunter. Sie hob die Decke hoch und schob den mit einem Handtuch umwickelten Stein auf Höhe der Knie unter seine Beine. Seine Hose war feucht. Vielleicht sollte sie versuchen, sie ihm auszuziehen. Dann begriff sie, was passiert war. Er hatte uriniert. Sie schloß die Augen und deckte ihn wieder zu.
Sie hatte vorher noch nie versucht, an jemandes Hals den Puls zu finden, aber sie erwartete auch nicht, ihn zu finden. Die völlige Leere im Zimmer sagte ihr, daß er tot war. Sie wandte sich ab, setzte sich vor das Feuer und verschränkte die Arme vor den Knien. Die Tränen strömten ihr über die Wangen.
XXXIX
Er hatte sich, auf dem Bauch liegend, im Schilf versteckt, von wo aus er eine gute Sicht auf die Geschehnisse hatte. Er war nahe genug, um sehen zu können, wie dem Mann der mit einem Betäubungsmittel versetzte Met über das Kinn rann, in die Vertiefung seines Schlüsselbeins tropfte und ihm dann über die Brust lief. Als sich die Garrotte zusammenzog, stand er auf, langsam und gut sichtbar, die Hände in den Hüften. Er sah, wie Nions Augen sich weiteten; er sah, wie dieser begriff, sah, wie der Mann wild mit den Armen um sich schlug und, in dem Versuch, den Strang wegzureißen, an seinen Hals griff. Er begann zu lachen.
»Es waren nicht die Götter, die deinen Tod verlangt haben, Nion, Prinz der Trinovanter!« schrie er in die aufgehende Sonne. »Ich habe dafür gesorgt, daß du stirbst, ich und die Priester, die ich bestochen habe. Du stirbst, um meine Ehre wiederherzustellen. Und du zahlst mit deiner eigenen.«
Er konnte sehen, wie das Fleisch auf beiden Seiten des Stricks um den Hals des jungen Mannes anschwoll. Er konnte die Blutstropfen sehen, als sein Todeskampf immer verzweifelter wurde.
»Kein Mann teilt das Lager meiner Frau und bleibt am Leben. Kein Prinz, kein Druide, kein Brite und auch kein Römer! Und kein Gott wird auf dich warten, um dich über den Styx zu geleiten. Du stirbst entehrt.«
»Marcus!«
Der Schrei von der anderen Seite der Opferstätte klang wie der eines wilden Vogels. Er wirbelte herum, wie betäubt vor Schreck, während hinter ihm der Priester Nion das Messer in den Rücken stieß. Einen kurzen Augenblick lang überwältigte ihn die Schönheit seiner Frau, erleuchtet durch die rosiggoldenen Strahlen der
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