Erskine, Barbara - Mitternacht ist eine einsame Stunde
Kind. Wehleidig, weil aus seinem Plan nichts geworden war. Sie sah ihn verängstigt an. Bill war stark, zuverlässig, immer da zum Anlehnen. Dieser zitternde, verstörte Mann war nicht der Bill, den sie kannte.
»Wir machen es morgen«, sagte sie und bemühte sich, heiter zu klingen. »Vielleicht zum Mittagessen. Das wäre schön.«
»Ja. Zum Mittagessen.« Seine Stimme wurde schwerfällig. Er drückte wieder die Hand an den Kopf. »Ich bin müde, Kate.«
»Warum legst du dich nicht hin? Ich bleibe bei dir und leiste dir Gesellschaft.« Sie stand auf und nahm seine Hand.
Er folgte ihr ins Wohnzimmer und legte sich folgsam auf das Sofa. Seine langen Beine hingen über. Sie deckte ihn zu und schob behutsam ein Kissen unter seinen Kopf. Es sah nicht besonders bequem aus, wie er so auf dem kleinen Möbelstück lag, aber er rollte sich zur Seite gedreht zusammen und machte die Augen zu, ohne ein Wort zu sagen. Sie setzte sich ihm gegenüber hin und sah ihn besorgt an. Er hatte sicher eine Gehirnerschütterung; vielleicht einen Schädelbruch. Und es gab nichts, was sie für ihn tun konnte. Er mußte unbedingt ins Krankenhaus.
Sie lehnte sich in ihrem Sessel zurück und blickte ins Feuer. Im Haus war alles ruhig. Sie horchte angestrengt auf die Geräusche von draußen. œ Nichts, bis auf das leise Kratzen des Rosenstrauchs am Fenster, das zum Meer hinausging. Wo war Greg? Warum dauerte es nur so lange?
XXXVII
Greg stand auf der Kiesbank und leuchtete mit der Taschenlampe in den Schneeregen. Alles, was er sehen konnte, waren silberne Nadeln, die schräge Streifen durch die Dunkelheit zogen; dahinter konnte er das Meer unter dem Heulen des Windes hören. Die ganze Welt schien substanzlos und in Bewegung zu sein. Sand. Kies. Wasser. Gräser. Alles wehte im Wind und schwankte hin und her, gestaltlos im Schein der Taschenlampe.
»Allie!« brüllte Greg. Seine Stimme verlor sich im Brüllen der Elemente. »Allie. Wo bist du?«
Warum hatten sie ihr nicht mehr Fragen gestellt? Warum hatten sie nicht versucht, herauszufinden, warum sie in der Dämmerung hinaus in die Kälte gelaufen war, um hierher zu kommen? Warum hatten sie nicht genauer nachgefragt, was passiert war? Er zitterte heftig. Was hatte sie dazu gebracht, Bill anzugreifen? Einen Mann, den sie Dutzende Male getroffen hatte. Hatte sie ihn nicht erkannt, oder war der Angriff von jemand anderem gekommen; der Frau, die bei ihr war? Und wer war diese Frau? Lieber Gott, laß sie am Leben sein!
Er ging weiter. Seine Stiefel rutschten auf den nassen Steinen aus. Mit der Taschenlampe suchte er wieder die Gegend ab. Vergeblich. Es war nichts zu sehen.
Fröstelnd stemmte er sich gegen den Wind. Er ging zwischen den Dünen hindurch zum Strand und dann zum Grab. In der brüllenden Dunkelheit konnte er das Aufblitzen der Brecher sehen und das saugende Geräusch des Wassers hören, als sie sich gegen den Wind zurückzogen. Unter seinen Füßen schien der Boden zu beben.
»Allie!« Seine Angst, die er in Kates Gegenwart noch kontrolliert hatte, wurde von Sekunde zu Sekunde größer. Angst um Allie und Angst um sich selbst. Er war diesen Strand tausendmal entlanggegangen, bei jedem Wetter, um Mitternacht und am Tag, aber nie zuvor war er ihm so furchtbar und grauenerregend erschienen.
Seine Schritte wurden langsamer, als er sich dem Grab näherte. Er konnte spüren, wie sein Herz unter seinen Rippen donnerte. Ihm war kalt, und er fühlte sich krank. Er konnte die schlüpfrige Taschenlampe kaum festhalten, als er sie vor sich ausstreckte und den flackernden Lichtstrahl zum Rand der ausgegrabenen Mulde gleiten ließ.
»Allie?« Seine Stimme wurde heiser. »Allie? Trottelchen! Wo bist du?«
Es war dunkel in der Grube unter dem Lichtstrahl. Der anstürmende Hagel und der Wind schienen darüber hinwegzurasen, so daß die gähnende Schwärze still blieb.
Im nassen Sand abrutschend, kletterte er hoch zum Rand und schaute hinunter. Er ließ den Lichtstrahl mit schnellen Bewegungen durch die Grube gleiten, auf und nieder. Einen Moment lang blieb ihm das Herz stehen. Eine schwarze Höhle schien sich unter seinen Füßen aufzutun, die für immer und ewig nach unten führte. Die Taschenlampe verweilte einen langen Augenblick darauf, dann zwang er sie, sich weiterzubewegen, und er sah, daß es nur eine Sinnestäuschung gewesen war, eine Lüge, für die Licht und Schatten verantwortlich waren. Es war nur eine etwas höhere Rippe im Sand, die diesen tiefen, undurchdringlichen Schatten
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