Erskine, Barbara - Mitternacht ist eine einsame Stunde
schwirrte der Kopf.
Sein Blick wurde trüb. Das Weiß war aus dem Meer verschwunden. Alles, was er fühlte, war die Kälte. Eine unheimliche, allumfassende Kälte, die tief aus seinem Innern kam und sich Schicht für Schicht durch seinen Körper zur Oberfläche vorarbeitete. Wenn sie sein Hirn erreichte, würde er sterben. Das wußte er genau. Und ebenso wußte er, daß genau dies mit Alison und Bill passiert war. Er würde hier am Strand an Unterkühlung sterben, und niemand würde ihn finden, weil die Flut hereinkam.
Er hob die Augen zu dem Mann, der über ihm stand, aber die Gestalt war verschwunden. Die Nacht war leer. Hoch über den knotigen Wolken saugte ein zunehmender Mond am Meer und spuckte die Flut immer höher über das Land.
XL
Zögernd griff Kate nach ihrem Schal und wand ihn sich um den Kopf. Sie zog ihre dicke Jacke und die Handschuhe an, und mit einem letzten verzweifelten Blick auf Bill nahm sie die Taschenlampe und öffnete die Haustür. Sie mußte Greg finden.
An der Ecke des Cottage blieb sie einen Moment lang stehen, um Kraft zu sammeln, dann warf sie sich, ohne sich noch Zeit zum Nachdenken zu lassen, in den Sturm und kämpfte sich den Weg zu den Dünen hinunter.
Die Ausgrabungsstätte war menschenleer. Sie stand an ihrem Rand und schaute hinunter. Ihre Augen verengten sich in der Kälte. Sie stand mit dem Rücken zum Wind und spürte, wie die Kälte durch die Schultern ihrer Jacke sickerte. Die Mauer aus Sand ihr gegenüber war an einer Stelle eingestürzt, und im Licht der Taschenlampe konnte sie in den freigelegten Schichten große verfärbte Flecken sehen. Sie starrte ausdruckslos darauf. Es waren die Umrisse eines Körpers, deutlich wahrnehmbar im Licht der Lampe, zusammengekauert wie ein Fötus. Sie starrte ihn an. Einen Moment lang war sie zu entsetzt, um irgend etwas zu tun. Die Lampe in ihrer Hand war naß zwischen ihren behandschuhten Fingern. Sie bemühte sich verzweifelt, sie ruhig zu halten.
Hatte Alison das gesehen? War es das, was sie um den Verstand gebracht hatte, so daß sie im Wahnsinn einen Menschen angegriffen und getötet hatte? Sie schwenkte wie irr geworden den Lichtstrahl herum, stellte sich wieder in den Wind, suchte nach Greg, aber in der fürchterlichen Dunkelheit konnte sie nichts sehen. Unter ihren Füßen erzitterte der Boden, als die Wellen auf den Strand krachten. Die Flut war hoch, nur wenige Meter von ihr entfernt. Sie konnte spüren, wie die Gischt mit jeder neuen Welle, die den Sand und den Kies hinaufdonnerte, ihren Rücken benetzte.
»Greg!«
Ihre Tränen fühlten sich auf ihren eisigen Wangen siedendheiß an; sie strich sie sich mit dem Oberarm aus den Augen. Wo war er? Sie hatte nicht die geringste Idee, wo sie suchen sollte. Die Dünen, der Strand und der Sumpf erstreckten sich in beiden Richtungen über Meilen. War er auf der Suche nach Allie am Rand des Meeres entlanggestürmt, oder war er zurück zum Cottage gegangen, oder sogar in den Wald?
Sie schwenkte den Lichtstrahl in Richtung der Düne. Er war noch da, dieser Körper, die kauernden Umrisse im nassen Torf. Unter ihm sickerte ein erstes Rinnsal des schäumenden, mit Tang durchsetzen Wassers in die Mulde. Wenn die Flut jetzt nicht bald nachließ, war die Düne verloren. Sie wandte sich ab. Es war ihr egal.
Sie entschloß sich, am Rand der Flut entlangzugehen, nach Norden zu, und so gut sie konnte einen Parallelkurs zum Meer zu halten. Wenn sie fünfzehn Minuten lang nach Norden ging, dann etwa fünfzig Meter ins Inland und wieder zurück, immer noch parallel zum Meer, würde sie sich nicht verlaufen. Das wäre besser, als ziellos in den Dünen herumzuwandern. Sie machte die Lampe aus und stopfte sie in die Tasche. Die See leuchtete seltsam, und sie konnte auch ohne Lampe gut sehen. Es war besser, die Taschenlampe aufzusparen, bis sie sie wirklich brauchte.
Vor ihr in der Dunkelheit bewegte sich etwas. Sie blieb stehen und blinzelte in den Wind. Alison? Es war nicht Greg, da war sie sich sicher. Sie spürte, wie ihr der Atem in der Kehle stockte. Alison war immer noch hier draußen in der Dunkelheit. Alison, die einen Menschen getötet hatte. Ihre Hand schloß sich um die Taschenlampe, aber sie machte sie nicht an. Langsam ging sie auf die Stelle zu, an der sie eine flüchtige Bewegung gesehen hatte.
Die Gestalt hatte den Platz gewechselt. Sie war jetzt ein wenig links von Kate, fast hinter ihr. Und sie winkte. Sie winkte Kate, ihr zum Grab zu folgen. Es war nicht Allie. Diese Frau
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