Erskine, Barbara - Mitternacht ist eine einsame Stunde
Tränen, und sie wischte sich mit dem nassen, eisigen Ärmel ihrer Jacke darüber. Dann blieb sie stehen.
Sie beugte sich vornüber und sog die Luft in großen, keuchenden Zügen ein. Weil sie es nicht wagte, sich umzusehen, stierte sie weiter angestrengt in die Dunkelheit vor sich. Dann, plötzlich, sah sie es. Die aufragende Silhouette der Dünen und die eckigen schwarzen Umrisse eines Dachs. In den Fenstern des ersten Stocks war keine Spur von Licht.
Sie schluckte. Mit einer Willensanstrengung verlangsamte sie ihren Herzschlag, als sie dem Meer den Rücken zukehrte und den Weg zwischen den Dünen suchte. Der Garten des Cottage war schneebedeckt; unterhalb der Mauer war er vom Wind aufgewirbelt und zu flachen Haufen getürmt worden, die schon fast zehn Zentimeter hoch waren. Ohne sich Zeit zum Nachdenken zu lassen, ging sie an der Wand lang, auf die Haustür zu, und lugte um die Ecke. Der Land Rover stand noch da, wo sie ihn abgestellt hatten. Sie schloß die Augen und ließ sich an die Wand sinken, schwach vor Erleichterung. Erst jetzt wurde ihr bewußt, daß es sie nicht überrascht hätte, wenn er verschwunden gewesen wäre. Sie trat aus dem Schutz der Mauer und ging auf ihn zu, blieb dann unvermittelt stehen. Die Haustür des Cottage stand weit offen.
»Bill.« Ihre Lippen formten lautlos seinen Namen. Plötzlich stülpte sich ihr fast der Magen um, und ihre Beine schienen keine koordinierten Bewegungen mehr ausführen zu können, aber irgendwie zwang sie sich, auf die Tür zuzugehen. Aus der Diele fiel Licht, und sie konnte sehen, wie weiß und rein der Schnee war. Keine Spur von irgendwelchen Fußabdrücken.
Sie schlich zur Tür und spähte hinein. Die Wohnzimmertür stand auf, und sie sah, wie die Vorhänge gegen das Fenster wehten. Im Cottage stank es nach Erbrochenem. »Allie?« Ihre Stimme war ein Krächzen. »Allie?« versuchte sie es noch einmal. »Bist du da?«
Die Willensanstrengung, die nötig war, um sich zum Weitergehen und zu einem zögernden Blick in das Zimmer zu zwingen, war enorm, aber irgendwie gelang es ihr. Es war so, wie sie es verlassen hatte. Bill lag noch immer auf dem Sofa; nichts war angerührt worden. Vorsichtig trat sie ein. Der Ofen hatte sich abgekühlt. Es gab jetzt von dort kein Leuchten, das sie willkommen geheißen hätte. Das Zimmer war ausgesprochen kalt. Sie tat noch einen Schritt vorwärts und blieb dann stehen, überwältigt von Ekel und Entsetzen. Die Decke, die sie Bill über das Gesicht gezogen hatte, war zurückgeschlagen worden. Sein Gesicht, blau und aufgedunsen, war ihr zugewandt, die halbgeöffneten Augen waren in einem blinden Starren direkt auf sie gerichtet. Vor ihm auf dem Boden befand sich eine Lache von Erbrochenem.
Sie stürmte aus dem Haus und rannte zum Land Rover, wo sie sich über die Kühlerhaube fallen ließ und den Kopf in den Armen vergrub. Eine Weile lang rührte sie sich nicht, kämpfte auf zitternden Beinen gegen die Übelkeit, dann gelang es ihr endlich, in der Tasche nach den Schlüsseln zu tasten. Sie fand sie und stolperte zur Fahrertür, wo sie verzweifelt versuchte, einen der Schlüssel in das Schloß zu stecken. Erst nach einer Weile bemerkte sie, daß die Tür nicht verschlossen war. Sie machte sie mühsam auf, zog sich auf den Sitz hinauf und knallte die Tür zu. Dann brach sie in Tränen aus.
Ihre Brille. Sie hatte ihre Brille verloren. Wild schniefend suchte sie mit zitternden Händen in ihrer Tasche herum, bis sie sie endlich fand; sie war in einer der Innentaschen. Sie rieb sich mit dem feuchten Ärmel die Augen und setzte sie auf. Dann beugte sie sich nach vorn und steckte den Zündschlüssel ins Schloß. Sie tastete an den ungewohnten Gängen herum und riß den Schaltknüppel vor und zurück, ehe es ihr gelang, den ersten Gang zu finden. Schließlich wendete sie das schwere Fahrzeug und fuhr ruckweise auf die Dünen zu.
»Komm schon. Komm schon. Bleib jetzt bitte nicht stecken, du Scheißding, bleib bitte nicht stecken«, bettelte sie mit heiserer Stimme, als sie verzweifelt nach vorn durch die beschlagene Windschutzscheibe schielte.
Der Land Rover ruckelte über das Grasstück und hinunter auf den Sand, die Reifen rutschten und schlidderten, aber irgendwie fanden sie doch Halt in der nachgebenden, nassen Oberfläche des Strandes. Im Schneckentempo schlängelte sie sich damit zwischen den Dünen hindurch, vor sich im Scheinwerferlicht nur eine wirbelnde Mauer aus Sand und Schnee und Regen. Als sie endlich das Meer erkennen
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