Erskine, Barbara - Mitternacht ist eine einsame Stunde
konnte, sah es aus wie eine Barriere aus wütendem Weiß, das vor ihr aufragte und sich gegen das Land schleuderte. Sie warf das Lenkrad herum, fuhr jetzt nach Norden. Sie fuhr in Schrittgeschwindigkeit, blieb aber immer in Bewegung. Jeder ihrer Muskeln war angespannt, all ihre Willenskraft darauf gerichtet, daß die Räder die Bodenhaftung nicht verloren. Wo war er? Bitte, lieber Gott, mach, daß ich ihn finde. Voller Verzweiflung suchte sie den Strand nach Gregs zusammengekrümmter Gestalt ab. Sie hatte hoffentlich nicht zu lange gebraucht? Sie verfluchte die Zeit, die sie nutzlos vergeudet hatte, und steuerte das Fahrzeug weiter weg vom Meer, als es mit einem fürchterlichen Ruck in eine mit Wasser gefüllte, tangbedeckte Furche fuhr und stehenblieb. »O nein!« Verzweifelt jonglierte sie mit Kupplung und Gaspedal und bemühte sich, nicht noch tiefer hineinzufahren. »Bitte. Bitte, komm schon.« Sie riß den Schaltknüppel gewaltsam vor und zurück, als der Wagen nach vorn schaukelte und dann mit einem Ruck wieder stehenblieb. Die Reifen drehten durch. »Verdammt!« Voller Wut schlug sie auf das Lenkrad ein. »Komm schon. Komm schon!« Im kalten, mitleidlosen Strahl der Scheinwerfer blieb der Strand unerbittlich. Weit und breit gab es kein Leben. Im zweifachen Lichtstrahl wirbelte Schnee herum, der Sand glänzte vor Kälte, und dahinter, sogar über das Motorengeräusch hinweg, konnte sie das wütende Tosen des Meeres hören. Voll konzentriert versuchte sie eine neue Gangkombination, und wirklich, wie durch ein Wunder erwachte das alte Fahrzeug zu neuem Leben und zog sich aus der Senke, befreite sich mit einem Schütteln wie ein großes Nilpferd, das sich im Schlamm gesuhlt hatte. »Paß jetzt auf.« Kate sprach jetzt laut zu sich selbst. »Paß jetzt bloß auf, du blöde Kuh. Schau, wo du hinfährst. Das nächste Mal kommst du nicht mehr raus.« Sie umklammerte das Lenkrad mit aller Kraft, beugte sich wieder vor und spähte in die Schatten am Rande des Scheinwerferlichts.
Mitternacht: Geisterstunde an diesem menschenleeren, gottverlassenen, einsamen Ort.
Wo in Gottes Namen war er?
XLIV
»Allie?« Diana beugte sich über das Bett ihrer Tochter. »Allie, Liebling, hörst du mich?« Das Kind war wieder eiskalt, die Haut klamm, aber sie zitterte nicht. Sie hatte nichts mehr gesagt, seit ihre Mutter sie nach ihrem Ausbruch nach oben geführt, ihr ein heißes Bad eingelassen und ihr beim Ausziehen geholfen hatte. Normalerweise hätte Allie schon bei dem Gedanken wild protestiert, daß Diana auch nur das Badezimmer betreten könnte, während sie in der Wanne saß, aber jetzt ließ sie es sich gefallen, daß Diana sie auszog, hob folgsam wie ein kleines Kind die Arme, als ihr ihre Mutter den Pullover und das T-Shirt über den Kopf zog, und stieg widerspruchslos in die Wanne. Sie setzte sich, zog ihre Knie an und legte die Arme um sie. Mit geschlossenen Augen stützte sie den Kopf auf, als ihr Diana mit warmen Wasser den Rücken wusch. »Willst du dich ein bißchen zurücklegen, um aufzutauen?« Das Kind war so dünn. Sie hätte es bemerken müssen, daß sie so viel Gewicht verlor! Diana fuhr fort, ihr mit dem Schwamm den Rücken zu waschen und beobachtete entsetzt, wie das parfümierte Wasser von Allies vorstehenden Rippen tröpfelte und um die deutlich sichtbaren Wirbel ihres Rückgrats lief. »Allie, hast du gehört, was ich gesagt habe? Leg dich zurück und laß dich ein bißchen aufwärmen.«
Das Schütteln des Kopfes war kaum sichtbar.
»Dann komm raus. Ich bringe dich ins Bett.« Dianas Stimme klang lebhaft. »Und dann erzähl mir, was passiert ist. Hast du Greg und Kate gesehen?«
Alison blieb hölzern stehen, während ihre Mutter sie trockenrieb, und als ihr das Nachthemd über den Kopf gezogen wurde, bewegte sie ihre Glieder mit der Ruckhaftigkeit eines Roboters. Folgsam erlaubte sie Diana, sie in ihr Schlafzimmer zu führen, und dort kletterte sie in ihr Bett. Erst als ihr Diana den Teddy in den Arm legte, zeigte sie eine Gefühlsregung. Das Stofftier an den Brust gedrückt, drehte sie sich zur Seite, zog die Knie hoch bis unters Kinn, bis sie zusammengerollt war wie ein Embryo. Dann begann sie zu weinen.
»Allie, Liebes.« Diana saß neben ihr auf dem Bett und legte die Hand auf die Schulter des Mädchens. Sie fühlte sich hilflos, und sie hatte Angst. »Liebes, bitte. Wein doch nicht. Dir kann jetzt nichts mehr passieren.«
Aber Alison fuhr fort zu weinen. Sie schluchzte in das Fell des Teddybären,
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