Erskine, Barbara - Mitternacht ist eine einsame Stunde
wieder auftaucht, beten wir oder sowas. Vertreibt das nicht die Geister? Wir machen das Kreuzzeichen. Das Zeichen gegen den bösen Blick. Das machen sie immer in historischen Romanen, und da funktioniert es doch auch.«
Gregs Lächeln nahm zu. »Kennst du das Zeichen gegen den bösen Blick?« Er schien zufrieden, so dazuliegen. Wie sie selbst einen Augenblick zuvor konnte er spüren, wie ihn der stille, alles verschlingende Friede des Schnees umhüllte.
»Mir fällt sicher was ein. Komm schon, Greg. Beweg dich. Du mußt dich bewegen. Versuch, dich auf den Bauch zu rollen. Wenn du kriechst, brauchst du den Fuß nicht zu belasten. Komm schon. Du darfst nicht aufgeben.«
Mit einem Stöhnen gehorchte er ihr und schwang sich zur Seite, bis er auf dem Bauch lag, das Gesicht in den kalten, nassen Sand gedrückt. Ein stechender Schmerz überkam ihn, und er spürte, wie sich die Hitze seines eigenen Schweißes wie ein Mantel über seinen unterkühlten Körper breitete. Ächzend grub er seine Ellbogen in den Sand und schleppte sich einen halben Meter vorwärts. Dann fiel er wieder hin und stöhnte laut. »Das dauert so verflucht lang.«
»Vielleicht dauert es die ganze Nacht, aber wir schaffen es«, sagte sie voller Grimm. »Wenn es so nicht geht, mußt du aufstehen und dich auf mich stützen.«
»Klingt verlockend, aber ich glaube, wenn ich versuche aufzustehen, werde ich wieder ohnmächtig.« Er ballte die Faust und kroch mit übermenschlicher Anstrengung wieder ein Stück voran. Dann fiel er in sich zusammen. »Es hat keinen Sinn. Ich schaffe es nicht. Du mußt den Land Rover holen. Das Cottage kann nicht weit sein.« Er hob mühevoll den Kopf und blinzelte in den wirbelnden Schnee, als könne er den Blick darauf erzwingen.
»Ich kann dich nicht allein lassen, Greg.« Sie kniete vor ihm.
»Du mußt, sonst sterben wir beide. Ich komme schon klar. Ich bewege mich langsam vorwärts, wie gehabt, parallel zum Meer. Versuch nicht, runter auf den weichen Sand zu fahren. Bleib auf dem festeren Untergrund, weg von den Dünen. Versuch einfach, so nah wie möglich heranzukommen. Realistisch gesehen überleben wir nur, wenn wir‘s in den Land Rover schaffen. Ich hab genug, und du bist durch und durch naß. Sogar wenn er steckenbleibt, haben wir da drin eine Chance, und außerdem finden sie uns leichter.« Er kämpfte sich hoch auf die Ellbogen. »Also los, Kate. Hier, nimm die Schlüssel. Sie sind in meiner Tasche.« Er suchte mit schmerzverzerrtem Gesicht in seiner Jacke herum und zog sie mit tauben Fingern heraus. Als er sie auf ihre Handfläche fallen ließ, zwang er sich zu einem Lächeln.
Ihre Hand schloß sich um sie. Sie sah ihn voller Verzweiflung an. Er hatte recht. So würde er es nie schaffen.
Sie richtete sich auf und machte sich daran, die Jacke abzustreifen.
»Nein, mach keinen Unsinn.« Er schüttelte zornig den Kopf. »Du brauchst sie genauso sehr wie ich. Mir bricht bei der geringsten Bewegung der Schweiß aus. Mach dir um mich keine Sorgen. Behalt sie an und komm lieber so schnell du kannst wieder zurück.«
Sie nickte grimmig. Sie zögerte noch einen Moment, dann drehte sie sich um und lief mit unsicheren Schritten zurück den Strand hinunter. Sie hatte den Wind jetzt im Rücken, und das war um vieles leichter, ohne den Schnee und den Regen in den Augen.
Ihre Erschöpfung war mittlerweile so groß, daß sie Schmerz und Kälte kaum noch empfand. Sie kämpfte sich weiter und immer weiter, manchmal wurde sie langsamer und ging ein Stück, dann lief sie wieder, und nur ganz leise war sie sich bewußt, daß ein Teil von ihr über ihre Schulter horchte, ob ein Verfolger zu hören war. Aber wer sollte sie verfolgen? Marcus?
In großen Zügen sog sie ihre Lungen voll Luft und stapfte weiter, von der Angst vorwärtsgetrieben. Sie mußte es zurück zum Cottage schaffen. Sie mußte den Land Rover finden. Sie konnte sich unmöglich verlaufen, mit der Meer zu ihrer Linken, dessen Wellen sich an der Küste brachen, unzählige Male zurückwichen, immer wieder am Sand zerrten wie ein Tier, das seine Beute nur unwillig zurücklassen wollte. Und doch mußte sie feststellen, daß sie langsam in Panik geriet, als sie den Strand hinaufblickte. Wo war das Cottage? Sie hätte doch längst die erleuchteten Fenster sehen müssen? Sie hatte das Licht angelassen. Das wußte sie genau. Sie hatte sie angelassen, weil sie den Gedanken nicht ertragen konnte, den armen Bill im Dunkeln liegen zu lassen. Ihre Augen füllten sich mit
Weitere Kostenlose Bücher