Erskine, Barbara - Mitternacht ist eine einsame Stunde
wieder in die Dunkelheit. Da begriff sie, daß sie wieder in Richtung Meer ging. Ohne daß sie es bemerkt hatte, war sie zwischen zwei Wellen über die Flutlinie hinaus geraten. Das Tosen der See und des Windes hatten ihr die Orientierung geraubt, und jetzt jagte eine Welle auf sie zu, hoch wie eine Flutwelle. Kate erstarrte. Tsunami. Ohne daß sie es gesucht hätte, blitzte das Wort in ihrem Kopf auf. Verzweifelt drehte sie sich um und versuchte zu laufen, doch sie konnte nicht. Sie kam nicht von der Stelle. Es war, als hielte sie jemand fest, als zwänge sie jemand nach vorn, auf das heranbrausende Wasser zu. Fast konnte sie spüren, wie jemand ihre Arme hielt und sie vorantrieb.
»Greg!« Sie hörte, wie ihre Stimme sich zu einem Schrei steigerte, als sich die Wassermassen über ihrem Kopf zu türmen schienen. »Greg!«
Das Wasser schlug krachend über ihr zusammen und warf sie zu Boden. Das letzte, was sie hörte, bevor das Tosen alles übertönte, war das Lachen eines Mannes.
Als sie wieder zu sich kam, lag Greg über sie gebeugt. »Gott sei Dank, dir ist nichts passiert. Verdammt, Kate, ich weiß wirklich nicht, was hier vor sich geht.« Gregs Körper bot ihr Schutz. Er hatte einen Arm um sie gelegt, fast so, als ob sie miteinander geschlafen hätten. Er mußte sich über die nassen Kiesel zu ihr geschleppt haben, sein armer nutzloser Fuß bei jeder Bewegung eine einzige Qual. »Ich habe die Welle gesehen. Ich habe gesehen, wie er dich geschoben hat. Ich dachte, du seist tot.« Er umklammerte ihre Hand, hielt sie gegen seine Brust.
Verzweifelt versuchte sie, einen klaren Gedanken zu fassen. »Wer hat mich geschoben?«
»Marcus. Es war Marcus, Kate. Ich habe seine Toga gesehen, seinen Mantel, und ich habe sein Schwert gesehen. Er war neben dir, dann hat er dich geschoben, und ich habe gesehen, wie sich diese verfluchte Welle auftürmte…« Er lehnte sich nach vorn und legte seinen Kopf auf ihre Brust. Es war ein seltsam tröstliches Gefühl vollkommen frei von Erotik. Sie hob die Hand und strich ihm durchs Haar.
»Marcus existiert nicht, Greg. Er ist nicht real. Er ist eine Statue. Ein Witz. Ein eingebildeter Geist.«
»Es war nichts Eingebildetes an ihm.« Er murmelte in ihre Jacke. »Er war real. Ich habe gesehen, wie er dich gestoßen hat. Ich habe gesehen, wie du nach vorn geschossen bist, auf diese Welle zu. Er war real, er hat versucht, von meinem Verstand Besitz zu ergreifen. Er hat das schon früher versucht, und jedes Mal habe ich ihn weggeschoben. Mir war nicht bewußt, was passierte; ich verstand es nicht. Aber jetzt, aus irgendeinem Grund, will er, daß wir beide sterben.«
Sie legte sich einen Moment lang zurück, starrte hoch zum Himmel, die Augen zum Schutz vor dem leise fallenden Schnee zusammengekniffen. Es schneite jetzt stärker. Weiter den Strand hoch, außer Reichweite des Wassers, blieb der Schnee liegen, bedeckte die Dünen, trieb im Wind. »Warum? Warum will er, daß wir sterben?«
Greg schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht. Es hat was mit dem verdammten Grab zu tun. Wir haben seine Ruhe gestört.«
»Es ist nicht sein Grab. Er ist in Colchester begraben.« Sie wandte sich ihm zu. Dabei löste sich sein Kopf von ihrer Brust, so daß er mit dem Gesicht nach unten neben ihr zu liegen kam. Behutsam strich sie mit ihrer Hand über seinen Rücken. »Kannst du dich umdrehen? Warte, ich helfe dir. Wir müssen versuchen, irgendeinen Schutz vor dem Wetter zu finden.« Wo war das Stück Holz? Sie blickte um sich, aber in der Dunkelheit war nichts mehr davon zu sehen. Das Meer mußte es ihr entrissen haben, bevor es sie zurück auf den Strand geworfen hatte. Stöhnend richtete sie sich auf. Ihr ganzer Körper schien ein einziger blauer Fleck zu sein. Sie war durchnäßt bis auf die Haut und konnte bereits spüren, wie ihr immer kälter wurde. Wenn nicht schnell etwas passierte, würden sie beide an Unterkühlung sterben.
Greg hatte sich mit einem leisen Seufzer zurück auf den Sand fallen lassen und die Augen geschlossen. Einen Moment lang überkam sie Panik. Er war tot. Er war gerade gestorben, gleich neben ihr, zwischen zwei Augenblicken, wie Bill. »Greg!« Ihre Stimme steigerte sich zu einem lauten Schrei.
Er schlug die Augen auf und lächelte. »Hast du einen Plan?«
Ihre Erleichterung war so überwältigend daß sie ihn fast geküßt hätte. »Wir müssen hier weg. Auch wenn du noch so große Schmerzen hast. Nur so können wir am Leben bleiben. Zum Teufel mit Marcus. Wenn er
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