Erskine, Barbara - Mitternacht ist eine einsame Stunde
Stille. »Weiter«, flüsterte er.
»Das war‘s. Wenigstens war das alles, woran ich mich erinnern kann. Aber das ist der wichtige Teil. Libera nos a malo. Erlöse uns von dem Übel.« Es war egal. Da draußen war jetzt niemand mehr, der zuhörte. Sie war sich dessen sicher. Er war fort. »Paddy, laß uns versuchen, das Gewehr zu finden. Es kann nicht weit sein.« Es war fast finster. Das Tageslicht nahm schnell ab.
»Ich glaube, ich habe es da drüben verloren. Erzählen Sie Dad nicht, daß es losgegangen ist. Sonst kriege ich es nie wieder.«
»Es hat uns wahrscheinlich das Leben gerettet«, sagte sie kurz angebunden. »Ich sehe es. Da. In den Nesseln dort.«
Der Schneefall war jetzt dichter. Hier formten sich die Flocken zu einer bleichen Wolke, dort trieb sie der Wind in stechende Büsche.
Patrick holte sich vorsichtig das Gewehr zurück. Er blickte sich um. »Keine Spur von einem Weg. Ich kann nicht mal sehen, aus welcher Richtung wir gekommen sind.«
»Von da.« Kate zögerte nicht. Sie zwängte sich durch ein Brombeergebüsch und begann, eine kleine Steigung hochzuklettern. Mit ihren geborgten Stiefeln rutschte sie im Schnee aus.
»Warten Sie.« Patrick starrte herum. »Da, sehen Sie. Durch die Bäume.«
»Wo?«
»Da. Ich sehe ein Licht.«
»Gott sei Dank!« Es kam aus tiefstem Herzen. Seite an Seite kämpften sie sich darauf zu. Sie rutschten und schlidderten jetzt bergab, aus dem stürmischen Wind und zurück in den Schutz des Waldes.
»Es ist verschwunden. Ich sehe es nicht mehr.«
»Da. Da ist es.« Patrick blieb stehen. »Es ist Redall. Oh, Kate, wir sind im Kreis gelaufen. Wir sind wieder da, wo wir losgegangen sind. Er läßt uns nicht entkommen.« Die Enttäuschung und die Angst in seiner Stimme waren mit Händen zu greifen.
Sie biß sich auf die Lippe. Sie ärgerte sich über sich selbst, über ihre Dummheit genauso wie über den überwältigenden Sturm der Erleichterung, der in ihr aufgestiegen war. »Es hilft nichts. Wir gehen wieder rein und sehen, ob wir einen Kompaß finden.«
»Gut.« Er nickte.
»Dann müssen wir‘s nochmal versuchen. Und diesmal bleiben wir auf dem richtigen Weg.«
»Einverstanden.« Er grinste sie breit an. »Aber zuerst was Warmes zu trinken, ja?«
»Ja.« Sie legte den Arm um seine Schulter.
LIV
Jon öffnete seine Wohnungstür und spähte hinein. Es roch abgestanden; unbewohnt. Erst gestern, bevor er vom John-F.Kennedy-Flughafen abflogen war, hatte er erfahren, daß Cyrus nur zwei Tage bei ihm gewohnt hatte. Dann hatte es einen gewaltigen Streit mit den Sponsoren seines Londonbesuchs gegeben, und er war zurück in die Staaten geflogen.
Jon ließ seine Reisetasche auf den Boden fallen, schob mit dem Fuß die Tür hinter sich zu und bückte sich, um die Post aufzuheben. Müde ging er hinüber zum Tisch und warf sie darauf. Auf dem Fensterbrett stand eine Vase mit vertrockneten Blumen über einem Kreis aus klebrigem gelbem Blütenstaub. Er nahm sie und trug sie in die Küche. Dabei rümpfte er die Nase wegen des Gestanks des abgestandenen Wassers. Auf der Anrichte lag ein Schlüsselbund. Er drehte den Hahn auf und ließ Wasser in die Vase laufen, um die schleimiggrünen Ablagerungen wegzuspülen, die sich auf dem groben Porzellan festgesetzt hatten. Dann nahm er die Schlüssel und sah den Anhänger an.
Eine kleine schwarze Katze. Kates Schlüssel. Er knallte sie auf die Anrichte. Zwei Tage! Lausige zwei Tage war Cyrus geblieben, und dafür hatte er sie so gut wie hinausgeworfen! Na ja, wenigstens hatte er ihr jetzt die erste Hälfte von ihrem Geld zurückgezahlt.
Er ging ins Wohnzimmer, warf sich auf das Sofa und streckte die Hand zum Tisch neben ihm aus, um auf die Wiedergabetaste des Anrufbeantworters zu drücken. Die Anrufe wollten nicht enden. Er hörte abgespannt zu, die Augen geschlossen. Die Prozession der Stimmen durch das kalte Dämmerlicht des Nachmittags war wie ein Blick auf sein Leben. »Hi Jon. Ruf mich an, wenn du zurück bist…«, »Jon, wenn du um den 18. herum da bist, sollten wir uns treffen…«, »Jon, vergiß nicht, 12 Uhr 30 am 23. im Groucho…«, »Jon…«, »Jon…«, »Jon…«
Er stand auf, um sich einen Scotch einzugießen. Die Flasche alle Flaschen auf dem Tablett œ waren leer.
»Scheiße!«
»Jon. Hier ist Bill. Wollte dich nur wissen lassen, daß alle Telefone oben in Redall außer Betrieb zu sein scheinen. Ich fahre heute morgen rauf œ es ist jetzt Sonntagmorgen, ungefähr zehn Uhr -, um zu sehen, was los
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